Leiser wird es im Blätterwald

Medientagebuch Die Stadtzeitung "Village Voice" stellt ihre Printausgabe ein. Seit 1955 informierte sie wöchentlich über ihre Stadt. New York ist damit weniger greifbar geworden
Ausgabe 35/2017
Ende, aus, vorbei. Die "Voice" gibt es in Zukunft nur noch digital
Ende, aus, vorbei. Die "Voice" gibt es in Zukunft nur noch digital

Foto: Drew Angerer/Getty Images/AFP

Ganz nüchtern ließe sich auch festhalten, dass die Zeitung in den letzten Jahren sowieso kaum noch gelesen wurde. In den roten, gerne versifften Plastikboxen, die in Manhattan an jeder zweiten Straßenecke stehen, stapelten sich die Ausgaben der Village Voice oft unberührt. Man las die Artikel lieber online und trotzdem lagen die besten Jahre dieser Wochenzeitung hinter ihr. Aber was soll schon ein nüchterner Blick, wenn auch schwere Nostalgie möglich ist? Vom Ende einer Ära war also vergangene Woche die Rede, als bekannt gegeben wurde, dass die Village Voice ihre Printausgabe einstellt. Nach über 60 Jahren wohlgemerkt, in denen die Voice, so wurde sie von den New Yorkern genannt, vom alternativen Nachbarschaftsblättchen zur preisgekrönten Kulturinstitution auf- und irgendwann zum Denkmal ihrer selbst abgestiegen war. Denkmalschutz genießt sie nun nicht mehr. In Zukunft, erklärte der Besitzer Peter Barbey, werde die Marke nur noch digital betrieben. Mit weniger Redakteuren, sprich: weniger Journalismus, sprich: kaum noch Voice.

Gegründet worden war das Blatt 1955, unter anderen von Norman Mailer, und zwar als erste alt weekly (alternative Wochenzeitung) der USA. Berichtet wurde zunächst über das Greenwich Village, wo die Miniredaktion saß, nach und nach eroberten die Reporter Manhattan und irgendwann auch den Rest New Yorks. Fragen, die jede Woche neu beantwortet werden wollten: Wo hinziehen? Was arbeiten? Wohin ausgehen? Wen vögeln? Zu den Autoren zählten der Schriftsteller James Baldwin, Beat-Poet Allen Ginsberg und Dramatiker Tom Stoppard. Zur Philosophie gehörte aber von Beginn an auch, unerfahrenen Schreibern Platz zu geben. Die Auflage betrug zu Hochzeiten 250.000 Exemplare und das Image der subversiven Querdenkerplattform, irgendwo zwischen links und liberal, festigte sich schnell. Die Voice war besonders dann spitze, wenn sie New York eben anders porträtierte als die etablierten Medien. Ein Ort, so erinnerte sich die New York Times neulich, „an dem man Jacques Derrida oder Telefonsexanzeigen entdecken konnte“. Zum Rückblick gehört aber auch, dass die Stonewall-Aufständler, jene Homo- und Transsexuellen, die sich 1969 anlässlich der Razzia in einem Szenetreff eine Straßenschlacht mit der Polizei geliefert hatten, in der Zeitung als Schwuchteln beschimpft wurden. Viele heute berühmte Autoren wie Colson Whitehead und Hilton Als schrieben als Rookies ihre Stücke in der Village Voice.

Als Klatsch-Kolumnist gestartet, avancierte Michael Musto mithilfe umstrittener Methoden selbst zum Szenestar. Musto berichtete nicht nur über den Club-Kid-Killer Michael Alig und verkündete 1987 das „Ende der Downtown“, er outete auch die lesbische Moderatorin Ellen DeGeneres. Politisch wertvoller war Rathaus-Reporter Wayne Barrett, der die Bürgermeister New Yorks nervte und die Machenschaften Donald Trumps enthüllte. Ab 1996 lag die Zeitung dann immer mittwochs kostenlos aus. Nach und nach ging die Relevanz flöten, Autoren wurden gefeuert. Mit jedem Eigentümerwechsel kamen auch neue Zukunftsversprechen, die nicht lange hielten. 2013 verließ die Redaktion den Cooper Square im East Village, der Schriftzug verziert dort noch heute die Fassade, als Reminiszenz an die alten Tage. Man hockt mittlerweile in einem kleinen, eher trostlosen Büro im Financial District. Die glamourösen Zeiten sind schon lange vorbei.

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