Komplizin der Kamera

Dokumentarfilm Wie intim man vom System Nordkorea erzählen kann: Vitaly Mansky und sein „Strahl der Sonne“
Ausgabe 10/2016

Die jungen Mädchen und Jungen der ansehnlichsten und trotzdem schlecht beheizten Schule Pjöngjangs sitzen in einer Art Aula. Gleich wird ein Veteran der nordkoreanischen Armee die Bühne betreten und von den Fliegerangriffen der US-amerikanischen Truppen in den 50er Jahren erzählen. Die Kinder werden daher angewiesen: „Schaut so, als würdet ihr einen Film sehen!“ Und dem alten Militär, der, obwohl vom Gürtel bis zum Hals seiner Uniform dekoriert mit Auszeichnungen, wird von der Seitenbühne erklärt, wie er seine Geschichte am besten erzählt; er soll die Rede früh beenden und den Kindern zur Aufnahme bei den Jungpionieren gratulieren.

Für den dramaturgischen Feinschliff der Veranstaltung sind zwei von oberster Stelle entsandte Aufseher zuständig, weil die Begegnung dokumentiert wird – die Inszenierung des Veteranenbesuchs bei den Jungpionieren gilt einzig der Kamera von Vitaly Manskys Film. In den aufgerissenen Augen und den halb geöffneten Mündern der Schüler soll der Betrachter das kindliche Glück finden, das sich auf Gesichtern zeigt, die sich in filmischer Fiktion verlieren.

Im Strahl der Sonne ist ein Film über Fiktionen und Täuschungen, über den Propagandaapparat des nordkoreanischen Regimes und die Formen der Überwachung. Es ist aber vor allem ein Film über das Verhältnis derer, die fiktionalisiert werden (die Eltern Zin-mis haben für den Film andere Berufe als sonst), zu der Fiktion, in der sie mitwirken; ein Film, der uns im Spiel der Kindergesichter etwas verrät über die Filme, die die Kinder kennen.

Manskys dokumentare Arbeit über den Alltag des achtjährigen Schulmädchens Zin-mi in Pjöngjang entstand wie jeder andere Film, der in Nordkorea gedreht wird: unter strengsten Auflagen. Die Anzahl der Drehtage war ebenso festgelegt wie die Orte, an denen die Kamera aufzeichnen durfte, und die Protagonisten, die das tägliche Leben darstellen; jede Einstellung, jede Dialogzeile wurde im Vorfeld fixiert. Ein eigens eingerichtetes Zensurbüro kassierte jene schattenhaften Bilder ein, die dem Selbstbild des Regimes nicht entsprachen.

Nach draußen geschmuggelt

In diesem Selbstbild, das laufend an die eigenen Leute ausgegeben wird, erscheint Nordkorea als lebenswertester Ort der Erde. Die Textilfabrik überschlägt sich in Produktivität, der routinierte Arbeitsrhythmus in der Molkerei lässt jede Maschinentaktung alt aussehen. Fast in jeder Szene wird geklatscht, und immer klatschen alle, auch die Beklatschten. Einmal sieht man einen Jungen, der verzögert applaudiert: eine Lappalie, offenbar selbst für die Zensoren, und doch fällt für einen Moment der ganze Synchronismus auseinander.

Solchen Unreinheiten hätte Mansky ruhig mehr Vertrauen schenken können. Wenn Zin-mi tatsächlich einen Film schaut, dann bestätigt diese Einstellung im Grunde nur die heroisch gestimmte Agitation, die wir in dem Gesicht des Mädchens beim Vortrag des Veteranen ohnehin schon erahnt haben. Dieses Gesicht hatte die Propaganda bereits entlarvt.

Und das ist die eigentliche, große Qualität von Im Strahl der Sonne: die Intimität, die zwischen der Kamera und dem Mädchen besteht, obwohl die Aufpasser aus dem Staatsapparat permanent den Abstand zwischen beiden kontrollieren. Die Kamera und das Mädchen blicken einander an, gewissermaßen an der Kontrolle vorbei, und verständigen sich stumm auf das Reale ihrer Beziehung. Die Kamera zeigt nicht nur die Fiktion dieses Mädchens, sie zeigt das Mädchen, das spielt, und dieses Mädchen zeigt in ihrem Spiel auch immer das, was sie weg- und überspielt, sie zeigt es der Kamera, von der sie weiß, dass sie es sieht.

Von außen sehen wir Zin-mi an einem Fenster stehen; gedankenverloren blickt sie nach draußen – und zugleich spielt sie blickend mit der Scheibe, durch die sie schaut und die sie trennt von ihrer Komplizin, der Kamera. Manskys intimer Dokumentarismus zielt genau darauf, Täuschung und Fiktion in ihrer Feinmechanik zu verstehen. Alltag und Leben in Nordkorea liegen irgendwo verschüttet in all den Gesichtern eines kleinen Mädchens, das die Wirklichkeit, und sei es nur eine Wirklichkeit des Spiels, nach draußen schmuggelt, indem es spielt.

Info

Im Strahl der Sonne Vitaly Mansky D/RUS/TCH/NK 2015, 94 Minuten

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Geschrieben von

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