Die traditionelle Werbung für die Fleischindustrie war durchzogen mit Motiven von Heimatkitsch und Deutschtümelei. Darin haben starke Männer mit „kräftig, deftig, würzigen“ Pasteten ihren durch harte handwerkliche Arbeit belasteten Energiehaushalt ausgeglichen. In einem Werbespot für die „Deutschländer“-Würstchen geht ein alter, weiser Metzger davon aus, Wien gehöre noch zu Deutschland.
Fleischkonsum assoziiert mit einer Großdeutschland-Nostalgie – das wird bei vielen schon gereicht haben, um Vegetarier zu werden. Nun will die Geflügel-Industrie, unter ihnen das Unternehmen Wiesenhof, die Zielgruppe der Bildungsbürger erreichen. Sie schaltet Anzeigen unter anderem in der Zeit und der Süddeutschen. Die Website geflügel-charta.de enthält Texte, deren Länge sich offenbar bewusst den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie in der digitalen Welt zu widersetzen beabsichtigt. Die Sprache ist oft ulkig akademisch. In dem angeschlossenen Blog fällt einmal zum Beispiel der Ausdruck „ideengeschichtliche Hintergrundfolien“.
Mit dem Leitbegriff Charta knüpft die Kampagne an Traditionen des politischen Liberalismus an. Die britische Magna Charta aus dem Jahr 1215 gilt als eine der ersten prototypischen Verfassungen. 1977 hat Václav Havel mit anderen tschechoslowakischen Dissidenten die Charta 77 veröffentlicht, um gegen Menschen- und Bürgerrechtsverletzungen der kommunistischen Diktatur zu protestieren. Nach diesem Vorbild haben 2008 chinesische Dissidenten, unter ihnen Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo und Ai Weiwei, die Charta 08 publiziert. Was sind die ideengeschichtlichen Hintergrundfolien einer Geflügel-Kampagne?
Die sechs angeführten Punkte lassen sich in drei wesentlichen Versprechen zusammenfassen. Die Industrie bekennt sich zur Einhaltung gesetzlicher Standards im Tierrecht. Immerhin. Man verzichtet auf die Praxis des Schnabelkürzens; genauer gesagt: Man erwägt einen Verzicht, sobald eine wissenschaftliche „Machbarkeitsprüfung“ dazu abgeschlossen ist. Das soll im Jahr 2017 der Fall sein. Die Tiere sollen außerdem weniger Antibiotika bekommen. Neben diesen Bekenntnissen bringt sich die Geflügel-Industrie als Ernährerin von künftig neun Milliarden Erdbewohnern ins Spiel, wegen ihrer hohen „Ressourceneffizienz“. Mit Rindern verglichen mag das stimmen, im Vergleich mit Gemüse eher nicht. Über Standards im Arbeitsrecht fällt kein Wort.
Viele Unternehmen der Fleischindustrie beschäftigen Leiharbeiter aus Osteuropa. Diese haben bis zur Einführung des Mindestlohnes Löhne nach Standard ihres Herkunftslandes erhalten. Werkverträge sind in der Branche noch weit verbreitet. Besonders empfehlen möchte ich den Blog-Artikel auf der Seite: „Warum der Begriff ‚Massentierhaltung‘ wenig hilfreich ist“. Er stammt von dem studierten Philosophen Christian Dürnberger, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Darin nennt er den Ausdruck „Massentierhaltung“ eine „stigmatisierende Parole“. Wer ihn benutzt, könne mit seiner moralischen Empörung nicht „konstruktiv umgehen“. „Massentierhaltung“ ist also Hate Speech? Triggert der Begriff die Geflügel-Industrie?
Die PR-Kampagne kann sich mit einer Aura des Akademischen und einer kruden Spielart linker Sprachkritik schmücken. Die guten Argumente für Vegetarismus kann sie damit aber nicht widerlegen. Eine Welt, in der es keine Massentierhaltung mehr gäbe, wäre ein humanerer Ort.
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