Das „Kursbuch“ lebt

Kulturtheorie In einer Zeit, in der vermehrt via Blogs und Facebook debattiert wird, ist das "Kursbuch" ein Stück Nostalgie, aber ein unbedingt erhaltenswertes Medium
Ausgabe 38/2015

„Linke Theorie“ nannte sich zwischen den 1960er und 80er Jahren ein Format in Deutschland. Das waren anspruchsvolle, akademische Texte, die zugleich massenkompatibel waren und als Taschenbücher erschienen. Autoren wie Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Gilles Deleuze hatten in dieser Zeit fünf- bis sechsstellige Verkaufszahlen. Als in diesem Frühjahr der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch das Buch Der lange Sommer der Theorie veröffentlicht hat, führte das zu einer kleinen Debatte darüber, welchen Platz die Theorie (und nicht nur die linke) heute noch im Lesehaushalt der Massen einnehmen kann.

Zu einer festen Institution des Theoriezeitalters gehörte auch das Kursbuch. Eine Zeitschrift, die 1965 von Hans Magnus Enzensberger und der Lektoren-Legende Karl Markus Michel gegründet worden ist. Sie hat etliche Verlegerwechsel und eine längere Auszeit hinter sich; aber sie erscheint noch immer. In ihrem 50. Gründungsjahr wird sie nun herausgegeben von Peter Felixberger, Programmleiter des Murmann-Verlages, und Armin Nassehi, Soziologie-professor in München. Nachdem die vorletzte Ausgabe teils dem eigenen Jubiläum gewidmet war, versucht man sich im aktuellen Heft wieder an einer ambitionierten Gegenwartsdiagnose: „Wohin flüchten?“, fragt es aus gehaltvollen Essays von Journalisten, Sozial- und Geisteswissenschaftlern.

Es werden weiterhin die großen Fragen gestellt, nur auf eine pragmatischere Weise. Kulturtheoretische Tiefsinnigkeit oder Marx-Exegesen findet man in dem Buch nicht. Albert Scherr berichtet detailliert von der deutschen Abschiebepraxis. Mit einer düsteren Vision schließend warnt Scherr davor, dass die EU und Deutschland in der Migrationspolitik ihr Selbstverständnis „als den Menschenrechten verpflichtete Wertegemeinschaft“ aufkündigen. Miltiadis Oulios hält eine optimistische Vision dagegen. Personen, die sich illegal in Europa aufhalten, nähmen ein noch nicht institutionalisiertes Weltbürgerrecht auf Bewegungsfreiheit wahr. Dass dieses Recht in mittelfristiger Zukunft anerkannt wird, scheint er für möglich zu halten. Im Hinblick auf Orbáns Flüchtlingspolitik ist auch diese Passage in Oulios’ Aufsatz brilliant: „Das Vorhaben, Menschen Freizügigkeitsrechte vorzuenthalten, ist nicht so einfach durchzusetzen und erscheint häufig naiver als die Forderung nach der Anerkennung und Legalisierung der Freizügigkeitsrechte, die sich Menschen nehmen, obwohl sie es nicht dürften.“

Melden sich dagegen die verbliebenen Stars der alten Schule linker Theorie zu Wort, wirkt das zuweilen anachronistisch. Etwa als der französische Philosoph Alain Badiou nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo gefordert hat, man solle rote Fahnen schwenken anstatt der französischen Nationalflagge. Das neue Kursbuch zeigt hingegen, dass die alte Theorie-Tradition sinnvoll wiederbelebt werden kann. Dass sich in dem Format niemand an knappen Zeichenvorgaben oder akademischer Exaktheit orientieren muss, ermöglicht freies Denken. In dem Medium gelingt es gut, die Debatte über Geflüchtete in eine grundsätzliche Debatte über unsere Werte und unsere Zukunft zu führen. Argumente und Positionen der Essays könnten wie eh und je Dispute am WG-Küchentisch inspirieren. In einer Zeit, in der vermehrt via Blogs und Facebook debattiert wird, ist das Kursbuch auch ein Stück Nostalgie, aber ein unbedingt erhaltenswertes Medium. Allerdings müsste dringend der Frauenanteil erhöht werden: Unter 17 Autoren ist nur eine Frau zu finden.

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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