Beim Lesen von Sasha Marianna Salzmanns Roman, der auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis gelandet ist, trocknet es einem die Kehle aus. Die Figuren rauchen unablässig, essen wenig und trinken ständig Wodka auf leeren Magen.
Vor allem Alissa, zumeist Ali genannt, führt einen selbstzerstörerischen Lebensstil. Eine Protagonistin, die sich selbst nicht kennt und die sich selbst auch ziemlich egal zu sein scheint. Obwohl Ali die Protagonistin in einer Art Bildungsroman ist, erfahren wir lange fast nichts über ihr Denken und Fühlen. Selbst ihre geschlechtliche Identität bleibt weitgehend unklar. In die Handlung eingeschoben sind stattdessen Kapitel über die Lebensgeschichten von Alis Urgroßeltern, Großeltern und Eltern. Ali entstammt einer Fam
einer Familie von jüdischen Ärzten, die bis in die 1990er Jahre in der Sowjetunion lebten und dann nach Deutschland ausgewandert sind. Diese extrem plastisch und sehr detailreich erzählten Lebensläufe handeln vom Zweiten Weltkrieg, von antisemitischen Kampagnen in den 1950er Jahren, von häuslicher Gewalt gegen Frauen und sexuellem Missbrauch an minderjährigen Jungs. Alles deutlich ungesünder als Alis Konsumgewohnheiten.Ali fährt im Sommer 2015 nach Istanbul. Es ist eine Zeitenwende: Erdoğan lässt den Krieg mit den Kurden aufleben, der IS verübt im September einen Anschlag auf einer Friedensdemonstration in Ankara, bei dem rund 100 Menschen sterben. Doch Ali nimmt die Zeichen des politischen Erdbebens in Istanbul zunächst nur beiläufig zur Kenntnis. Sie ist gekommen, um ihren Zwillingsbruder zu suchen, der seit mindestens zwei Jahren verschwunden ist. Ihr einziger Hinweis, dass er sich in der Stadt befinden könnte, ist eine unbeschriebene, aus Istanbul abgeschickte Postkarte.Sie lässt sich in eine Beziehung mit Katüscha treiben, die als Tänzerin in einem Club arbeitet. (Ein lustiges Detail in dem Roman ist, dass Salzmann die russischen Buchstaben „ю“ und „ё“ mit „ü“ und „ö“ transkribiert. Eigentlich wird „ю“ wie „ju“ und „ё“ wie „jo“ ausgesprochen.) Es stellt sich heraus, dass Katüscha lieber Katho genannt werden will. Er ist ein Trans-Mann. Ali spritzt ihm Testosteron. Später beginnt sie selbst, männliche Hormone zu nehmen. Wenn sie ihren Bruder Anton nicht findet, erklärt sie, wolle sie eben selbst Anton werden. Später relativiert sie das. Sie habe das mit den Hormonen nur mal ausprobieren wollen.Ob sie sich nun als Frau sieht, als Mann oder als intergeschlechtlich, bleibt unklar. Bloß keine Festlegung! In ein paar Kapiteln wird Ali mit dem Pronomen „er“ bezeichnet, in anderen mit „sie“. Sex hat sie manchmal mit Frauen, manchmal mit Männern. Bevor er verschwunden war, hatte sie auch mal Sex mit ihrem Bruder. Auch wenn der Sex ausführlich geschildert wird, so bleibt er doch seelenlos.Rote Beete wären schönAm 15. Juli 2016, dem Tag des gescheiterten Putschversuchs gegen Erdoğan, macht Ali mit Katho Schluss. Katho droht ihr damit, sich umzubringen. Ali beschimpft ihn und antwortet, dass schon ihr Vater Ali für seinen Selbstmord verantwortlich gemacht hat: „Wenn du es vorhast, wirklich vorhast, tu mir einen Gefallen und ruf mich nicht vorher an. Das wäre nett. Ein zweites Mal kriege ich das nicht hin.“ Hier im letzten Kapitel des Romans sieht man Ali zum ersten Mal, wie sie eine schlüssige Entscheidung trifft, wie sie fühlt und handelt. Aus einer literarischen Konstruktion wird eine plastische Figur.Ali sieht Menschen, die Lebensmittelläden leer kaufen, Geldautomaten, „die wie Fliegenfänger umkreist wurden, Scheine wurden gezogen, Scheine flogen durch die Luft, die Muezzins heulten wieder auf“. Ein junger Soldat wird von wütenden Erdoğan-Anhängern gelyncht. Es scheint, als würde diese Nacht des gescheiterten Putsches Ali aus ihrer Apathie aufwecken und als würde sie Sinn in Alis Familiengeschichte bringen. In den Zeiten der kommunistischen Diktatur wurden ihre Familienmitglieder von einer Krise in die nächste geworfen. Am 15. Juli 2016 ahnt Ali, was es bedeutet, so zu leben: „Unglück. Dieses Wort, ich hatte es immer wieder von den Alten gehört, aber es war für mich eine leere Hülse gewesen, fast nur ein Geräusch.“Die Erlebnisse in der Putschnacht bringen Ali dazu, ihre noch lebenden Urgroßeltern, ihre Großeltern und ihre Mutter nach ihren Leben auszufragen. Beim Zuhören wird Ali zeitweise zu einer Ich-Erzählerin. Der Roman bleibt bei seinem nervösen, „poetischen“ Stil; die Erzählweise wechselt manchmal mitten im Satz: „Ich hörte, wie Valja (Alis Mutter) Ali Vorwürfe machte, dass er gekommen war, um Fragen zu stellen.“ Einmal heißt es: „Das Ich unter mir lachte mechanisch auf.“ Diese Spielereien bringen zum Ausdruck, wie eine Figur ausprobiert, sie selbst zu sein. Sie probiert aus, wie es ist, ihrer Neugier zu folgen und sich auf Regungen und Gefühle einzulassen.Sasha Marianna Salzmann leitete zeitweise die Bühne Studio Я am Berliner Maxim-Gorki-Theater und machte sich als Theaterautorin einen Namen. Ihr Debütroman wirkt lange wie ein notdürftig zusammengenähter Flickenteppich. Die Themen – die sowjetische Familiengeschichte, die Verlorenheit in der Großstadt, Erdoğans repressive Innenpolitik – wirken allzu disparat. Erst auf den letzten Seiten ist ein Faden zu erkennen. Hier reift das Buch zu einem kunstvoll komponierten Entwicklungsroman. Noch schöner wäre er geworden, wenn die Figuren zur Abwechslung auch mal Rote Beete essen oder Apfelschorle trinken würden, anstatt immer nur zu rauchen und zu saufen.Placeholder infobox-1
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