Die Sozialfigur des Dolmetschers ist eigentlich eine großartige Chiffre für kommunikatives Handeln, für moderne Kompromissbereitschaft, für die Abwendung von Gewalt. Der Roman Erschlagt die Armen! von Shumona Sinha verhandelt all diese Themen. Die Autorin, 1973 in Kalkutta geboren und 2001 nach Frankreich gezogen, hat selbst als Dolmetscherin für Bengalisch in einer französischen Asylbehörde gearbeitet. Im Roman verarbeitet sie diese Erfahrung, nachdem er erschien, wurde sie gefeuert.
Über die Biografie der indischstämmigen Ich-Erzählerin erfahren wir fast nichts. Implizit wird jedoch deutlich, dass ihre Kindheit und Jugend in Indien traumatisierend gewesen sind. Mit Lucia – der weißen, blonden Arbeitskollegin – identifiziert sie sich stark. Auch körperlich fühlt sie sich zu ihr hingezogen. Die starke Identifikation mit dem weißen Europa führt zu Aggressionen gegen Asylsuchende und Migranten. Einige Passagen ihres inneren Monologs können für rassistisch gehalten werden. So beobachtet sie, wie Menschen in dunkler Haut irgendwo „herumlungern“. Die Asylsuchenden erinnern sie „an Dreck, schmutziges Wasser“. Ein Landsmann spricht sie vor der Behörde an und fragt sie, was er in den Verhören sagen soll. Sie verweigert ihm die Hilfe. Die Anwälte der Asylsuchenden werfen ihr vor, dass sie in den Gerichtsverhandlungen zu sehr die Unsicherheit der Asylsuchenden zum Ausdruck bringt. Die Erwartung, dass sie ihren Landsleuten eine besondere Solidarität erweisen soll, irritiert sie.
Faszinierend ist das Verhältnis der Protagonistin zur Sprache. Sie identifiziert sich mit der Sprache ihrer neuen Heimat. Darin kann sie Erinnerungen an ihr alten Leben auf Distanz halten. Entsprechendes gilt für die Autorin. Sie will nicht auf Englisch schreiben, sagt sie in einem Interview. Sinha betrachtet die Hegemonie der englischen Sprache in Indien als ein Erbe des britischen Kolonialismus. Von diesem Erbe will sich die Autorin befreien. Die französische Sprache hilft ihr dabei.
Flehende Illegalen-Sprache
Die Protagonistin hat ein hochsensibles Gehör; im Klang verschiedener Sprachen erkennt sie die verschiedenen Erfahrungswelten wieder, in der die Sprachen geprägt worden sind. Die „Sprache der verglasten Büros“ steht der „flehenden Sprache, der Illegalen-Sprache, der Ghetto-Sprache“ gegenüber. Was heißt das für ihren Beruf? Es ist keine neutrale, rein technische Aufgabe. Es bedeutet, sich auf einem schmalen Grad zwischen zwei Wertesystemen und Erfahrungshorizonten zu bewegen, die schwer miteinander kompatibel sind. Mithilfe von Metaphern versucht die Autorin, diese Vermittlungsprobleme zu beschreiben: „Wir hatten eine Sprache, eine gemeinsame Sprache, aber es war, als schrie ich aus dem neunten Stock zu einem Passanten. Manchmal hatte ich den Eindruck, ihnen meine Wörter wie heißes Wasser über die fassungslosen Köpfe zu schütten.“
Natürlich ist der Roman durch die Flüchtlingsthematik gerade enorm aktuell. Beschrieben wird, wie sich illegale Einwanderer für die Verhöre neue Lebensgeschichten erfinden. Sie sind jedoch schlecht vorbereitet. Angeblich verfolgte Christen kennen die Grundsätze des christlichen Glaubens nicht. Viele geben sich als Propagandasekretäre aus, da die Schlepperbanden das so empfehlen. Parteipolitische Auseinandersetzungen können sie aber nicht darlegen.
Aus stark patriarchalisch geprägten Gesellschaften stammend sind die Asylsuchenden in den Verhören mit zwei Frauen konfrontiert, die nun über ihr Schicksal entscheiden können. Auch was dies bedeutet, versucht der Roman auszuloten. Und nicht zuletzt ist der literaturhistorische Rahmen interessant, die Anspielungen auf Charles Baudelaire zum Beispiel. Baudelaire hat Schriftsteller wie Victor Hugo für seine romantisierenden Darstellungen von Proletariern angegriffen. Dagegen schrieb Baudelaire in einem mitunter snobistischen Ton, hinter dem sich aber eine hohe zeitdiagnostische Sensibilität verbirgt. So fügen sich auch die rassistischen Äußerungen von Sinhas Ich-Erzählerin in ein kohärentes Bild davon, was es bedeutet, Migrantin im heutigen Europa zu sein. Ihr Zorn trifft den Nerv dieser Zeit.
Zum Preis
Den Internationalen Literaturpreis gibt es seit 2009. Er wird vom Haus der Kulturen der Welt und von der Stiftung Elemtarteilchen verliehen. Ein Preisgeld gibt es für den Autor (20.000 EUR) und den Übersetzer (15.000 EUR ). Letzte Preisträger waren Amos Oz und seine Übersetzerin Mirjam Pressler für die Übersetzung Roman Judas. Die sechs nominierten Autoren dieses Jahres sind die Mexikanerin Valeria Luiselli, Ivan Vladislavić aus Südafrika, der Russe Alexander Ilitschewski, der Schwede Johannes Anyuru und die Polin Joanna Bator. Joanna Bator ist für den Roman Dunkel, fast Nacht nominiert worden. Ein surrealer Thriller über einen Kinderpornoring und eine fanatisch katholische Protestbewegung in der schlesischen Stadt Wałbrzych, die die Errichtung einer 18 Meter hohen Marienstatue fordert. Die Verwirrtheit, die Aggressivität und der Rassismus der Protestbewegung erinnern stark an Pegida oder Trump-Anhänger. Das überrascht, denn das Buch ist schon 2013 im Original erschienen. Zu den engeren Favoriten auf den Preis zählte wohl außerdem Ilitschewski mit seinem 700 Seiten-Epos Der Perser. Der Roman spielt vor allem in Aserbaidschan, er rollt die Geschichte des Landes als ehemalige Sowjetrepublik auf, liefert wunderschöne Landschaftsbeschreibungen und gibt einen fesselnden Einblick in die Ölwirtschaft im post-sowjetischen Raum. Die Preisverleihung findet am 25. Juni werden alle nominierten Autoren und Übersetzer anwesend sein.
Info
Erschlagt die Armen! Shumona Sinha Lena Müller (Übers.), Edition Nautilus 2015, 128 S., 14,99 €
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