Hilfreich und gierig

Liberalismus Der israelische Autor Nir Baram legt mit „Weltschatten“ einen großen politischen Roman vor
Ausgabe 35/2016

Um einen Kasten Bier würde ich wetten, dass Nir Baram einmal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten wird. Baram gilt als der israelische Schriftsteller, der die Friedenspreisträger David Grossman und Amos Oz beerben könnte. Wie die beiden ist Nir Baram in Israel ein sehr präsenter Intellektueller. Und auch hierzulande tritt er immer öfter als Erklärer seines Landes auf.

Sein Buch Im Land der Verzweiflung, erschienen in diesem Frühjahr, ist das Produkt vieler Erkundungstouren durch die von Israel besetzten Gebiete. Ausführlich lässt Nir Baram Palästinenser und Siedler zu Wort kommen und rekonstruiert noch die scheinbar marginalsten Aspekte des Konflikts. Das ist zwar häufig ermüdend, zeigt aber grandios, wie zerfahren der Konflikt ist.

Nun ist mit Weltschatten ein dritter Roman von Nir Baram auf Deutsch erschienen. Der Anspruch ist abermals gewaltig. Unter anderem erzählt Baram vom Scheitern des politischen Liberalismus. Genauer gesagt vom Scheitern von Menschen, die in den 1990er Jahren glaubten, sie könnten die Welt verbessern und sich dabei auch noch eine goldene Nase verdienen. Auch ist Baram, dessen Vater und Großvater sozialdemokratische Minister in Israel waren, ein Meister in der Beschreibung von politischem Kuhhhandel. Als Leser schauen wir fasziniert zu, wie einflussreiche Unternehmer, Beamte und Politiker hinter verschlossenen Türen zu Entscheidungen kommen.

Die Handlung von Weltschatten besteht aus drei gleichwertigen Strängen: zum einen die Geschichte um Gavriel Manzur. Nach dem Studium wird er Gründungsvorsitzender einer jüdischen Stiftung für Demokratie. Diese Stiftung wird in den 1980er Jahren vom US-Amerikaner Michael Brookman gegründet, Chef eines Hedgefonds. Ziel der anfangs dezidiert linken Stiftung ist es, junge Projekte in Israel zu fördern. Der Stiftungsbeirat besteht aus Geschäftsleuten, die die wirtschaftliche Kooperation zwischen Unternehmen aus Israel und den arabischen Anrainerstaaten verbessern wollen. Sie tun das aus Idealismus, wirken aber auch ein wenig wie Figuren aus Martin Scorseses Film über Investmentbanker, The Wolf of Wall Street. Der Höhepunkt ihres unternehmerischen Erfolgs liegt im Mai 1995, als ein gigantischer Friedenskongress organisiert wird, nur ein paar Monate später wird der israelische Premier Jitzchak Rabin ermordet. Es ist das Ende der Friedenshoffnungen.

Riesige Resonanz

Der zweite Handlungsstrang dreht sich um eine Washingtoner Agentur für Politikberatung namens MSV. Einer der drei Partner ist als Bürgerrechtler bekannt geworden. Jordan Steinbeck war Aktivist gegen den Vietnamkrieg und an der Seite von Martin Luther King. Ein entsprechend progressives Image hat die Agentur. Ihre Hochzeit liegt ebenfalls in den 1990er Jahren, als die Agentur Bill Clintons erfolgreiche Kampagne für die Präsidentschaftswahl leitet.

Davor haben die Inhaber der Agentur aber bereits dem eigenen Untergang vorgearbeitet, 1995 sind sie nahe am Bankrott. Knapp gerettet werden sie beim Friedens-kongress. Sie lernen einen kongolesischen Oligarchen kennen, der Anteile des Unternehmens kauft. Wenig später wird bekannt, dass dieser Lubanga die ruandische Miliz Hutu-Power mit Waffen ausgestattet hat; es ist dieselbe Miliz, die 1994 den Völkermord an den Tutsi begangen hat. Lubanga ist nun international geächtet, und die Agentur versucht alles, um seine Beteiligung an dem Unternehmen nicht öffentlich werden zu lassen.

Der dritte Handlungsstrang beschäftigt sich mit einer Londoner Gruppe von Anarchisten, die eine Facebook-Seite erstellt, auf der zum weltweiten Streik am 11. 11. 2011 augerufen wird. Was wie eine pubertäre Idee wirkt, wie sie im Netz ungezählt kursiert, erhält riesige Resonanz. Einen Monat später kommt es zu ersten internationalen Aktionen. Sie richten sich vor allem gegen linksliberale Künstler, in London, in Berlin. Weltweit gibt es über hundert Verletzte.

Bei den Protestaktionen kommt es immer häufiger auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei. Nun gibt es Tote. Daniel Kaye beginnt, die Londoner Gruppe zu beraten. Im Auftrag des Internationalen Währungsfonds und der britischen Regierung übernimmt MSV eine Kampagne gegen den Streik. Es scheint möglich, dass die Weltordnung durch die Proteste einstürzt.

Nir Baram erzählt nicht chronologisch. Bis sich die Handlungsstränge seines Romans zu einem Bild zusammensetzen, dauert es. Belohnt wird der Leser durch viele starke Bonmots und eine adäquate Erzählform. Die meisten Kapitel über die Londoner Anarchistengruppe werden aus der Wir-Perspektive erzählt. Das Erzählen aus der ersten Person Plural, wie es Jeffrey Eugenides berühmt gemacht hat, erzeugt einen Sog. Es ist ein starker Ausdruck für die Kraft einer Bewegung, die fast ohne individuelle Anführer auskommt.

Im großen PR-Showdown zwischen MSV und der Bewegung für den Streik wird ein Konflikt sichtbar, der unterschwellig den Roman durchzogen hat: der zwischen linksliberalem Pragmatismus und linksradikalem Anarchismus. Zwischen denen, die Mehrheiten organisieren und sich kompromissbereit zeigen, und den unerbittlichen Kritikern von Macht, Technokratien und Hierarchien. Zwei Mitarbeiter von MSV – einer davon Daniel Kaye – tragen diesen Konflikt in ihren Biografien aus.

Nir Baram nimmt beide Positionen ernst, zeigt ihre größten Stärken und kapitalen Schwächen und lässt offen, welche Haltung die bessere ist. Barams kraftvolle Darstellung profunder weltanschaulicher Konflikte könnte ihn auch literarisch zu einem Erben von Friedenspreisträger Amos Oz machen. Schon in dessen Werk wird sehr oft und sehr gut gestritten.

Info

Weltschatten Nir Baram Markus Lemke (Übers.), Carl Hanser 2016, 512 S., 26 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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