„Ich glaube an Streit“

Interview Der israelische Schriftsteller Amos Oz erklärt seinen neuen Roman „Judas“ und die Politik in seinem Heimatland
Ausgabe 33/2015

der Freitag: Herr Oz, worum geht es in Ihrem Roman „Judas“?

Amos Oz: Es geht um Verrat und Loyalität. Diese Themen haben mich fast mein ganzes Leben lang begleitet. Ich wurde von meinen Landsleuten sehr, sehr oft als Verräter beschimpft. Das fing in meiner Kindheit an und zieht sich bis heute durch. Daher habe ich den Roman schon mein ganzes Leben in mir getragen.

Grundgerüst des Romans sind die Dispute zwischen dem jungen Schmuel Asch und dem alten Gershom Wald. Ihre Auseinandersetzung ist im Wesentlichen die zwischen einem Utopisten und einem Pessimisten. Stimmt das?

Offensichtlich sind sie sehr unterschiedlich. Sie stoßen sich ständig vor den Kopf. Schmuel ist ein junger Idealist, ein naiver Weltverbesserer. Dagegen ist Gershom Wald überzeugt, dass jeder Versuch, die Welt zu verbessern, mit einem furchtbaren Blutbad endet, mit einer neuen Inquisition, den Kreuzzügen, dem Dschihad, dem Gulag oder mit Folterkammern. Dann gibt es die dritte Protagonistin Atalja. Sie ist verbittert und verletzt. Sie steht dem gesamten männlichen Geschlecht feindlich gegenüber, weil sie denkt, dass Männer die Welt in ihrer Jahrtausende währenden Herrschaft in ein Schlachthaus verwandelt haben. Das Seltsame an dem Roman ist, dass diese drei so verschiedenen Menschen sich am Ende fast gegenseitig lieben. Ich verstehe auch nicht ganz, wie das passieren konnte, obwohl ich das Buch bereits mehrere Male gelesen habe.

Der Charakter, der mich am meisten gefesselt hat, ist Ataljas Vater: der zum Zeitpunkt der Handlung schon verstorbene Abrabanel. Bis 1947 gehörte er zu den führenden Zionisten in Israel. Dann wurde er ins Abseits gedrängt, weil er glaubte, den Krieg gegen die Araber verhindern zu können. Er ist zugleich ein sehr kluger Politiker, aber auch ein Fanatiker. Wie schätzen Sie ihn ein?

Er war kein Heiliger. Er war ein schlechter Vater und ein schlechter Ehemann. Gleichzeitig will er es eigenhändig umsetzen, dass alle Menschen Brüder werden und ohne Staat und Nation leben. In dieser Hinsicht ist er Jesus sehr ähnlich. Seine Ideen werden in dem Roman von Gershom Wald scharf attackiert. Wald hält ihm entgegen, dass eine solche Welt ohne Grenzen wunderschön wäre. Aber er sieht nicht ein, warum im Jahre 1947 ausgerechnet die Juden die Ersten und eventuell die Einzigen sein sollten, die dieses Experiment wagen. Keine der vier Figuren in dem Roman ist der positive Held. Sie sind zu vergleichen mit einem musikalischen Quartett. Ich stehe gleichermaßen hinter ihnen, selbst wenn sie sich widersprechen.

Keine Figur zeigt einen gesunden sozialen Optimismus oder Kompromissbereitschaft. Wäre das langweilig?

Das hätte so gewirkt, als wollte ich eine politische Botschaft senden. Ich wollte aber ein Buch über Einsamkeit und über Unglück schreiben. Schmuel, Wald und Atalja sind zusammen eingesperrt im kalten Jerusalemer Winter des Jahres 1959. Diese Morbidität und die Einsamkeit der Figuren haben mich fasziniert. Dies wollte ich in erster Linie darstellen. Dazu geht es auch um einen Konflikt zwischen Ideen. Aber das ist eher untergeordnet. Vor allem geht es darum, wie diese Einzelgänger sich gegenseitig entdecken.

Zur Person

Amos Oz, 76, ist der meistübersetzte Schriftsteller Israels. Seit den 70er Jahren setzt er sich für einen friedlichen Kompromiss zwischen Israelis und Palästinensern ein. Sein neuer Roman Judas ist kürzlich auf Deutsch erschienen (Suhrkamp 2015, 335 S., 22,95 €)

Die vier Hauptfiguren befinden sich in ständiger Trauer. Sie sind von diesen Gefühlen wahrhaft paralysiert. Israelische Intellektuelle wie David Grossman oder Eva Illouz haben zuletzt beschrieben, wie die Kultivierung von Trauer und Verzweiflung die politische Kultur Israels zynisch und resignativ macht. Hat Ihr Roman einen ähnlichen Anspruch? Wollen Sie die lähmende Wirkung einer stetigen Trauer zeigen?

Versuchen Sie diese politischen Diagnosen einmal außen vor zu lassen. Das Besondere des Romans liegt darin, wie diese Widersacher lernen, miteinander umzugehen und sich zu mögen. Ob das einen soziologischen oder politischen Gehalt hat, weiß ich nicht. Meiner Ansicht nach ist diese Annäherung eine Art säkulares Wunder.

Ich lese Ihren Roman auch als eine Verneigung vor der jüdischen Tradition des Streitens. Habe ich damit recht?

Ja. Ich glaube, dass Streit eine wichtige intellektuelle Stimulation ist. Er ist die Quelle des schöpferischen Handelns, von Kunst und Bildung.

Ist diese Streitkultur in Israel heute bedroht?

Ja. Sie ist bedroht. Denn es gibt bei uns viele Fanatiker. Fanatiker hassen Streit. Sie ertragen keine Unklarheiten und keine Zweideutigkeiten. Sie wollen alles in Schwarz und Weiß sehen. Für sie muss alles so geordnet sein wie in einem Hollywood-Film.

Ihr jüngerer Kollege Nir Baram, Jahrgang 1976, kritisiert die israelische Linke dafür, dass sie den Blick der Weltöffentlichkeit zu sehr auf den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern lenkt. Dabei ignoriere sie gerne den Rassismus innerhalb Israels und mache sich an der Marginalisierung sogar mitschuldig. Würden Sie dem zustimmen?

Ich denke nicht, dass meine Kollegen oder Freunde jemals ignoriert haben, dass es in Israel Rassismus gibt. Es gibt rassistische Elemente in der jüdischen Tradition. Sie sind nicht dominant oder zentral. Aber es hat sie immer gegeben.

Was halten Sie von Nir Barams politischer Publizistik?

Ich mag es nicht so gerne, ausführlich meine jüngeren Kollegen zu loben. Das führt dazu, dass man über ein literarisches Werk mit Argumenten pro und contra spricht, und das will ich nicht. Ich denke, er ist ein großer Schriftsteller. Ich lese seine Romane mit großer Neugier und Aufgeschlossenheit. Seine politischen Ansichten scheinen mir schlichter zu sein als meine. Das mag ein Vorteil sein, vielleicht aber auch nicht. Da bin ich mir nicht sicher.

Im Sommer letzten Jahres hat es viele Proteste gegen den Gaza-Krieg gegeben. Dabei haben in Paris linke Gruppen Israel-Fahnen verbrannt. Beobachten Sie diese Entwicklungen?

Ich ziehe da eine klare Grenze. Menschen sind nicht notwendigerweise Antisemiten, wenn sie Israel kritisieren – selbst wenn ihre Kritik scharf und ungehalten ist. Oft nehmen diese Leute Argumente auf, die ich schon vor 50 Jahren vorgebracht habe. Jedoch gibt es den Fall, dass diese Leute zu ihrer Kritik hinzufügen, dass es Israel eventuell gar nicht geben sollte. Das überschreitet die Grenze. Niemand hat jemals gefordert, dass Deutschland von der Landkarte getilgt werden sollte – auch nicht zu Zeiten Adolf Hitlers. Auch zu Zeiten Stalins hat niemand eine Welt ohne Russland gefordert. Die einzige Nation der Welt, deren Existenzrecht immer wieder in Frage gestellt wird, ist Israel, sind wir. Das bereitet mir Unbehagen. Das ist nicht legitim. Es ist legitim, die israelische Regierung auf gut Alttestamentarisch zu verfluchen. Es ist mehr als legitim, die Politik Israels in den besetzten Gebieten scharf zu kritisieren. Eine solche Kritik unterstütze ich sogar. Das Existenzrecht Israels mit einem Fragezeichen zu versehen aber ist dunkel und böse.

Wie schätzen Sie in dieser Hinsicht die Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ ein?

Der Boykott schadet den falschen Leuten. Er schadet den Akademikern, die in ihrer Mehrheit zur Linken gehören und für die Rechte der Palästinenser eintreten. Es schadet den unterprivilegierten Arbeitern, die als Erste den geringeren Absatz ihrer Arbeitgeber zu spüren bekommen. Der Regierung oder den Siedlern tut die Kampagne nicht weh. Es ist also keine gute Taktik, um Israels Politik zu ändern. Es gäbe bessere Methoden. Aber Israel verdient es sehr wohl, unter Druck gesetzt zu werden.

Unterstützen Sie die Ziele der Kampagne, etwa dass Israel sich auf die Grenzen von 1967 zurückziehen und die Sperranlagen aufgeben soll?

Na ja. Mir ist auch wichtig, dass die Kritiker Israels sich über die größeren Zusammenhänge des Nahostkonflikts im Klaren sind. Einerseits unterdrückt Israel die Palästinenser, es nimmt ihnen ihr Land weg, verweigert ihnen Bürgerrechte. Andererseits drohen fanatische Muslime Israel mit der Vernichtung. Die Wirklichkeit ist nicht schwarz-weiß. Das versuche ich schon seit etlichen Jahren europäischen Intellektuellen zu vermitteln. Aber ich war bislang nicht besonders erfolgreich damit.

Im November ist es 20 Jahre her, dass Premierminister Jitzchak Rabin, der den Oslo-Friedensprozess entscheidend vorantrieb, von einem jüdisch-orthodoxen Fanatiker ermordet worden ist. Wie erinnern Sie diesen Tag?

Wie viele andere Israelis fühlte ich, dass die in Rabins Rücken gefeuerten Schüsse auch auf mich zielten. Der Mörder hat nicht nur Rabin gemeint. Er zielte auch auf mich, meine Freunde, Kollegen und auf alle, die unsere Überzeugungen teilen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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