Es ist eines dieser Daten, an denen Gedenktexte in den Zeitungen stehen, an denen spezielle TV-Dokumentationen und Radiofeatures aufgelegt werden: Am 27. Januar jährt sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die Rote Armee zum 71. Mal. Seit nunmehr zwanzig Jahren ist das Datum in Deutschland offiziell der „Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus“. Als Nachgeborener der zweiten beziehungsweise dritten Generation frage ich mich immer wieder, wie ich mich zu einem Datum wie diesem verhalten soll
Von meinen Großeltern wurden zwei erst nach 1945 geboren. Die beiden anderen waren bei Kriegsende drei und fünf Jahre alt. Meine persönliche Distanz zur Shoah erscheint also, allein qua Alter, groß. Ist sie aber nicht! An Weihnachten habe ich erfahren, dass mein Urgroßvater seinen Schwager nach Kriegsende zwei Jahre lang versteckt hielt. Der Schwager war bei der SS gewesen. Nur durch die Hilfe meines Urgroßvaters entging er einer Verhaftung durch die französischen Alliierten. Meinen Urgroßvater habe ich noch ganz gut gekannt. Unabhängig von der Schuldfrage empfinde ich Scham wegen der Anekdote. Denn sie zeigt mir, dass die NS-Verbrechen und der Holocaust auch Spuren in meiner eigenen Familiengeschichte hinterlassen haben. Sie prägen also auch meine Identität.
Solange es moralische Subjekte gibt, wird die Aufarbeitung der Shoah nie abgeschlossen sein können. Die Abartigkeit dieses Mordens wird Menschen noch jahrhundertelang empören. Gleichwohl wird sich unsere Gedenkkultur verändern, je länger die unsäglichen Verbrechen her sind.
Eine gute, neue Art des Gedenkens ist etwa verwirklicht in der Installation Gefallenes Laub des israelischen Künstlers Menashe Kadishman, die im Jüdischen Museum in Berlin zu sehen ist. In einem gut 15m hohen, schmalen und schwach beleuchteten Raum mit Betonwänden sind auf dem Boden gut 10.000 Gesichter verteilt, die aus flachen kreisförmigen Stahlblechstücken gemacht sind. Man kann über die Gesichter tretend durch den Raum gehen. Beim Auftreten erklingen schrille Töne. Und eben darum – weil man über die Gesichter von Toten geht – stellt sich das beklemmende Gefühl von Pietätlosigkeit ein. Der Raum ist eine Einbahnstraße. Man kann ihn nicht von Anfang bis zum Ende durchschreiten, so wie man den Holocaust auch nicht einfach einmal von Anfang bis Ende „abarbeiten“ kann – um dann einen Schlussstrich zu ziehen. Der Besucher muss selbst entscheiden, wie lange er es aushält, wie weit er in den Raum hineingehen kann und will. Und wann er wieder umdreht.
Der Künstler hat die Installation „allen unschuldigen Opfern von Krieg und Gewalt“ gewidmet. In einer solchen Universalisierung liegt, so behaupte ich, die Zukunft des Gedenkens an die Shoah. Der Holocaust bleibt ein unvergleichliches Grauen. Aber das soll und darf zumindest die Kunst nicht daran hindern, provokante Analogien zu den Verbrechen der Gegenwart zu wagen. Über das Entsetzen, das das Foto des toten Flüchtlingskindes Aylan ausgelöst hat, sagte etwa der Regisseur Milo Rau kürzlich: „Der zutiefst betroffene Blick unserer Leitmedien gleicht der berühmten ungläubigen Reaktion der Weimarer Bürger auf die Leichname in Buchenwald, mit denen sie die amerikanischen Befreier konfrontieren: Wie bitte, das? Bei uns?“ Der 27. Januar ist eine gute Gelegenheit, über solche Fragen verstärkt nachzudenken.
Kommentare 2
In der radikalen deutschen Linken, und das ist dann, übrigens nicht gleich, sofort und unwidersprochen, auch in der Mainstreamlinken so angenommen worden, ist die Singularität der Shoa als undiskutierbar vorausgesetzt gewesen.
Dafür sprachen die schieren Ausmaße des Verbrechens und seine Irrationalität. Die Ausmaße der Shoa zumindestens sind nicht unbegreiflich. Wird menschliches Leben als etwas begriffen, und das war es immer in der geschriebenen Geschichte der Menscheit, worüber man aus politischen, religösen oder auch wahnhaften Gründen glaubt beliebig verfügen zu können, ist es nur eine Frage der Möglichkeiten, dies auch zu tun. Und die Industralisierung schafft die Vorausetzungen für industrielles Töten.
Schwerer ist es mit der "Unbegreiflichkeit". Daran habe ich immer gezweifelt. Prinzipiell ist alles was Menschen tun für Menschen auch zu begreifen, zu verstehen. Nur, dass es nicht einfach ist, weil wir selbst Menschen sind. Die für mich überzeugenste, wenn gleich schwierig zu verstehende Annäherung leistet Moishe Postone
http://www.comlink.de/cl-hh/m.blumentritt/agr315s.htm
Er gibt auch eine mich überzeugende Antwort auf die Frage, wodurch sich vormoderner Antijudaismus von dem modernen, von dem der Nazis, dem der Shoa unterscheidet.
Nur, wenn Postones Antwort die richtige ist, also nicht nur die, die ich für richtig halte, dann ist die Schlussfolgerung zwingend, dass die Shoa wiederholbar ist. Und es müssen nicht die Juden sein, die Opfer werden. Die gefestigte Überzeugung, dass es nicht in Ordnung ist, seine Nachbarn im Haus oder auf dem Kontinent nebenan zu erschlagen, reicht nicht aus. Solche Überzeugungen sind auch in der Geschichte der Menschheit ausreichend belegt - und das Morden ging immer weiter.
Aylan ist die Verkitschung des Flüchtlingsdiskurses. Wohlgemerkt der tragische Fall einer Familie, die aufgebrochen ist, mit falschen Rettungswesten, Schleppern und in Seenot gebracht, zerstört worden ist.
Und da ist dann eben doch der Unterschied: Der Tod des Kindes ist die Verantwortung des überlebenden Vaters und der Schlepper. Der Tod in Buchenwald die Schuld des deutschen Volkes.