Sein oder Nicht sein

Entdeckung Percival Everett schreibt glänzende Satiren auf die US-Gesellschaft und ist als Erotiker auch noch viel besser als Philip Roth
Ausgabe 03/2015

Fast 30 Bücher hat er bislang veröffentlicht, und sie sind qualitativ und thematisch so verschieden, dass sich der Eindruck aufdrängt, Percival Everett schreibe, worauf er gerade Lust hat. Fangen wir beim schlechteren Teil seiner wilden Produktion an: In Wounded (2005) geht es um einen Mord an einem Homosexuellen in Wyoming. Der Leser wird belehrt, dass Bauern nicht notwendig dumm, rassistisch und homophob sind – wer sich das vorstellen kann, langweilt sich rasch. Dem steht exklusive Lyrik gegenüber: In Abstraktion und Einfühlung (2008) denkt Everett über Malerei nach und experimentiert mit der schriftlichen Darstellung von Echoeffekten – wer’s mag.

Restlos überzeugt Everett aber als Satiriker. Im Roman Erasure von 2001 verfolgt der Protagonist (ein schwarzer Schriftsteller wie Evertett selbst) avantgardistische Projekte, als wäre er eine wandelnde Roland-Barthes-Parodie. In der literarischen Öffentlichkeit wird er allerdings nur als Literat der afroamerikanischen Minderheit geführt, obwohl er sich an Diskursen um Black Identity nicht beteiligt: Der Roman attackiert ein vom US-Literaturbetrieb gehyptes Genre, in dem Ghettoisierung, Kriminalität und Drogen als vermeintliche Lebenswirklichkeit der überwiegenden afroamerikanischen Bevölkerung gezeigt und ästhetisiert werden.

Arbeitswelt, emotionalisiert

Nicht ins Deutsche übersetzt ist A History of the African-American People (proposed) by Strom Thurmond, ein mit dem Literaturprofessor James Kincaid verfasster Briefroman. Es geht um die Entstehung eines politischen Buchs, offizieller Autor soll ein seniler republikanischer Senator sein, Everett und Kincaid treten als Charaktere auf. Sie werden de jure als wissenschaftliche Mitarbeiter und de facto als Ghostwriter angestellt, in ihrer Korrespondenz schreiben die Beteiligten viel Persönliches und Existenzielles, alle werden Freunde, allein das Buch will und will nicht entstehen. Glänzend, wie Everett hier die Emotionalisierung der Arbeitswelt satirisch kommentiert.

Heutzutage sind Romane kaum noch nach ihrem Protagonisten benannt. Der Literaturwissenschaftler Christian Schultz-Gerstein erklärte es sich damit, dass der Glaube an die „Unverwechselbarkeit und Selbstmächtigkeit des Individuums“ im 20. Jahrhundert verloren gegangen sei. In seinem nun bei Luxbook auf Deutsch erschienen Roman Ich bin Nicht Sidney Poitier greift Everett das alte Titelschema auf und wendet es ins Bizarre:Nicht“ ist der erste Vorname des Protagonisten.

Als entsprechend grotesk erweist sich die Art von Nicht Sidneys Selbstmächtigkeit. Ohne Vater wächst er in einem Ghetto in Los Angeles auf, wo ihm seine Mutter dennoch eine humanistische Erziehung zukommen lässt. Als er elf Jahre alt ist, stirbt sie plötzlich. Durch Investitionen in den Medienkonzern von Ted Turner (dem Gründer von CNN) hat sie dem Sohn ein unermessliches Vermögen hinterlassen, das durch die Geschicke seines Anlageberaters immer größer wird. Nicht Sidney zieht nach Atlanta, zu Ted Turner. Dort lernt er eine Methode kennen, mit der er den Willen seiner Mitmenschen manipulieren kann.

Leitmotiv Blowjob

Mit der Psychotechnik und seinem Reichtum hat Nicht Sidney eigentlich sehr gute Voraussetzungen, über sein eigenes Schicksal souverän zu entscheiden. Dennoch fliegt er ohne Abschluss von der Highschool, wird im ruralen Teil Georgias in eine Strafkolonie entsandt, lässt sich im Morehouse College von den Mitgliedern einer Studentenverbindung demütigen und gerät in Alabama in U-Haft wegen Mordverdacht. Das alles hat keinen unmittelbar sozialkritischen Tenor. Der Held kommt meist durch naives, planloses Handeln in diese Nöte, aber stets relativ mühelos und ohne bleibende Schäden wieder aus ihnen heraus. So polemisiert der Roman gegen Identitätsmuster, die jungen Schwarzen in den USA geboten werden.Sieht man von seiner Mutter ab, die in der US-Gesellschaft extrem erfolgreich und dennoch entschieden gegen Werte ihrer Leitkultur (Familie, Religion, Fernsehen) gewesen ist, ist Nicht Sidney durchweg von Idioten umgeben, die wie Ted Turner, Bill Cosby oder Percival Everett vielfach ein Pendant in der Wirklichkeit besitzen.

Das Morehouse College wurde in Georgia nach dem Bürgerkrieg als Elite-Akademie von und für Schwarze gegründet. So existiert es bis heute, in Everetts Satire ist sein Traditionsbewusstsein dem weißer Elite-Colleges peinlich exakt nachgebildet. Die Eltern von Nicht Sidneys zeitweiliger Freundin Maggie wiederum gehören zur High Society Washingtons. Sie sind Afroamerikaner, legen aber Wert auf den geringen Dunkelheitsgrad ihrer Hautfarbe. Maggies Mutter ist die Vorsitzende eines Thinktanks der Republikaner, und darin liegt vielleicht die einzige Schwäche des Romans: Ließe Everett die Familie in Kreisen der Demokraten ihr Denken praktizieren, wäre noch etwas gegen den Irrglauben getan, dass Rassismus fest an eine konservative Gesinnung gebunden ist. Vor der Dummheit bietet auch die Literatur keine Flucht. Nicht Sidney besucht voller Erwartungen ein Seminar bei einem Literaturprofessor namens Percival Everett, wird aber intellektuell enttäuscht. Der Professor erzählt fortwährend Bullshit.

Ich bin Nicht Sidney Poitier nimmt immer wieder auf Thomas Manns Zauberberg Bezug (reiche Vollwaise als Protagonist, Einteilung in sieben Kapitel), wobei manche Motive ironisch gebrochen werden. Indes muss sich Everett bei der Darstellung seines fiktiven Namensvetters nicht an Manns Leo Naphta oder Lodovico Settembrini orientieren; dieser Literaturwissenschaftler kommt voll aus der Realität. Die Parodie trifft jenen Postmodernismus, der den Namen Nicht Sidney als eine Art Dekonstruktion seiner selbst (miss-)verstehen würde.

Noch vor der literatur- und gesellschaftskritischen Schärfe zeichnet sich der Roman durch Sorge um das humoristische und erotische Detail aus. Exemplarisch hierfür ist das Leitmotiv des Blowjobs. Ausführlich werden Tagträume und Gedanken des zerstreuten Protagonisten geschildert, die in verstörend komischer Weise mit dem Fellatio-Erlebnis zusammenfallen. Auch dadurch schafft der Autor seinem Helden einen unverwechselbaren Charakter. Percival Everetts Problematisierung der afroamerikanischen Identität ist in ihrer Bedeutung mindestens gleichrangig mit Philip Roths Roman Der menschliche Makel. Als Erotiker zeigt sich Everett Roth sogar hochüberlegen. Und aus seinen scharfen Analysen der heutigen US-Kultur, aus der Ironisierung des Bildungsromans der klassischen Moderne und aus seinem Sinn fürs Detail ergibt sich großartige Komik.

Ich bin Nicht Sidney Poitier Percival Everett Karen Witthuhn (Übersetzung), Luxbooks 2014, 300 S., 22,80 €

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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