Überflüssige Menschen

Roman Das neue Buch des chilenischen Schriftstellers Alejandro Zambra porträtiert mit boshafter Ironie zwei Literaturliebhaber
Alejandro Zambra braucht nicht viel Platz
Alejandro Zambra braucht nicht viel Platz

Bild: Imago/Zuma Press

Kann ein Text von rund 80 Seiten ein Roman sein? Nicht nur die Kürze deutet daraufhin, dass er durch diese Gattungszuordnung betrügerisch aufgewertet wird. Zumindest müsste die Handlung dann sehr dicht und intensiv sein. Diese wird jedoch beständig durch Vorausblicke, einleitende und resümierende Passagen verdünnt; der Autor hat eine Vorliebe für redundante Formulierungen und Wiederholungen. Einmal liest man in fünf Zeilen dreimal „Leben als Leserin“, einmal liest man ein Proust-Zitat, das schon eine Seite später erneut variiert wiedergegeben wird, dergleichen findet sich auf fast jeder Seite.

Die Gliederung in fünf Teile ist so streng, primitiv und konventionell, wie es nur von wissenschaftlichen Aufsätzen erwartet wird. Im ersten Kapitel lernen sich Emilia und Julio, 20-jährige Studenten in Santiago de Chile, kennen und werden zu einem glücklichen Pärchen, beide heucheln voreinander, den ganzen Proust gelesen zu haben. Im zweiten Kapitel sind sie schon unglücklich, sie trennen sich, als ihre gemeinsame, vorgeblich zweite Proust-Lektüre auf Seite 357 gekommen ist. Im dritten Kapitel wird Emilias, im vierten Kapitel Julios weiteres Leben dargestellt; für beide geht es bergab. Im fünften Kapitel wirft sich Emilia in Madrid vor die Metro, Julio erfährt davon einige Monate später, er steigt in ein Taxi und lässt sich für sein ganzes weniges Geld ziellos herumfahren.

Die Einfachheit ist Teil eines gelungenen ästhetischen Programms. Die stilistischen und formalen Redundanzen erweisen sich als gutes Mittel, um sich in die Dummheit der Protagonisten einzufühlen. Immer wieder unterbricht Zambra seinen ironisch-typologisierenden Duktus und kontrastiert ihn mit der Darstellung abseitiger Details. Zum Beispiel wird – nachdem das erste gemeinsame Jahr der beiden in drei Sätze gerafft worden ist – plötzlich beschrieben, wie Emilias Mitbewohnerin einmal für Antonio Eier im Glas zum Frühstück macht, obwohl sie ihn eigentlich nicht leiden kann. Diese quasi willkürlich erzählten Motive geben dem Narrativ hinterrücks doch eine krude Plastizität.

Die Dünne des Textes wird auch durch eine sehr pointierte Ausdrucksweise kompensiert, deren Qualität an den Ton in Herrndorfs Roman In Plüschgewittern erinnert. Mit Ende Zwanzig muss Julio Geld verdienen, indem er seine Bücher verkauft und „der Tochter eines Rechtsintellektuellen Lateinunterricht“ gibt. Der kurze Verweis auf den Broterwerb liefert genug Material, um sich die Tiefen von Julios finanzieller und intellektueller Hilflosigkeit vorzustellen. Zambra braucht nicht viel Platz, um viel Einbildungskraft freizusetzen.

Emilia und Julio sind nach dem Vorbild der Figuren Flauberts geschaffen. Wie für Emma Bovary, wie für Frédéric Moreau aus Erziehung der Gefühle wird die Leidenschaft für die Literatur zum Katalysator ihres sozialen Abstiegs. Es sind einsame Durchschnittstypen, deren Lügen, Illusionen und prätentiöses Verhalten sie doch zu einzigartigen und besonderen Menschen machen.

Wie lange Emilia und Julio genau zusammen sind, warum genau sie sich trennen, bleibt offen. Auch so verstehen wir über ihre Beziehung alles, was es zu verstehen gibt; die Entwicklungsgeschichten beider Protagonisten sind umfassend dargestellt. Der Autor von Die Erfindung der Kindheit hat wieder einen großen Bildungsroman vorgelegt.

Bonsai Alejandro Zambra, Susanne Lange (Übers.), Suhrkamp 2015, 12,00 EUR

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Geschrieben von

Lukas Latz

Student in Berlin, Spaziergänger überallTwitter: @lukaslac

Lukas Latz

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