Das Geschenk der Verlangsamung

Entschleunigung Am Mittwoch wurde uns eine ganze Sekunde geschenkt. Der Grund ist die Verlangsamung der Erdrotation. Will unser Planet mit gutem Beispiel vorangehen?

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Als ich heute früh um 7:00 wie gewohnt von meinem Handy mit den Anfangstönen einer melancholischen kurdischen Romantikschnulze geweckt wurde (übrigens die wichtigste Funktion dieses Gerätes), fühlte ich mich ausgesprochen ausgeschlafen. Der Grund war ganz einfach: Ich habe eine Sekunde länger als sonst geschlafen. In der Nacht, genauer genommen am Mittwoch zwischen 1:59 und 2:00 Uhr, wurde von der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in Braunschweig die Schaltsekunde eingeschoben (was so alles mitten in der Nacht passiert wenn man nicht aufpasst...).

Die Zeitspanne zwischen 1:59 und 2:00 dauerte also nicht wie gewohnt 60, sondern 61 Sekunden. Von wegen: „Es wird einem im Leben nichts geschenkt“! Der Grund für diese ungefähr jede zwei Jahre erfolgende Dehnung der Zeit ist unser Planet, der sich mit der Zeit langsamer dreht. Natürlich tut das der Planet nicht alle paar Jahre, sondern kontinuierlich. Es wird allerdings gewartet, bis sich ungefähr eine Sekunde angesammelt hat – und lässt die Uhren eben diese Zeitspanne länger zappeln. (Mehr und besser beschrieben ist dieses Phänomen auf Wikipedia).

Man könnte denken, eine Sekunde sei gar nichts. Das würden einige zweit- und drittplazierte bei Ski- oder Eisschnelllauf-Meisterschaften anders sehen, für einige „elektronische“ Aktien-Händler könnte eine doppelt so lange dauernde Sekunde Konsequenzen in Millionenhöhen haben! Ich denke auch an den vergangenen Winter und meine zwei über den Bürgersteig sausenden Kinder: Wären sie eine Sekunde früher losgerannt, wären sie beide von diesem plötzlich einbiegenden Autofahrer beide erfasst worden.

Eine Sekunde kann also durchaus viel bedeuten. Zumal diese eine Sekunde jedem Menschen geschenkt wird. Wie viele sind wir noch einmal? Sagen wir 7,5 Milliarden. Es wurden uns also in dieser Nacht von unserem Planeten 7,5 Milliarden Sekunden verschenkt, macht 2083333 Stunden, also 86805 Tage, also 237 Jahre!... Grob gerechnet drei Menschenlebenszeiten!

Wäre es nicht angebracht, sich nicht nur bei unserem Planet zu bedanken, sondern auch – ihm zu folgen? Langsamer zu treten, entspannen, neben slow food auch slow rotation zu predigen und zu leben? Abgesehen von dem Einwand, daß die Erde wohl kaum aus eigener Willensentscheidung heraus verlangsamt, und so nur bedingt als Vorbild taugt, gibt es noch ein Problem mit der geschenkten Zeit. Und zwar für alle, die ohnehin schon entspannt sind, und keinen Wecker nutzen. Sie schliefen nämlich diese Nacht wie üblich, ihre Weckzeit wurde nicht um eine Sekunde hinausgeschoben (und somit der Schlaf ausgedehnt). Moment, es gibt noch jene, die zwar den Wecker gestellt hatten, und aus irgendwelchem Grund früher aufgewacht sind – und sei es durch in das Schlafzimmer stürmende Kinder.

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Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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