Die Aktualität von Ingmar Bergmans "Schande"

Ethik Der Film "Schande" stellt die persönlichen ethischen Entscheidungen des Menschen in den Vordergrund - angesichts einer Extremsituation wie Krieg

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Kann man sich im Krieg überhaupt richtig verhalten?
Kann man sich im Krieg überhaupt richtig verhalten?

Foto: Elena Fitkulina/AFP/Getty Images

Erst vor kurzer Zeit hatte ich die Gelegenheit, Ingmar Bergmans Filmdrama „Schande“ von 1968 zu sehen. Ich war tief beeindruckt daüber, wie diese Geschichte die persönliche ethische Verantwortung in einer Krisen- bzw. Kriegssituation darstellt.

Kurz zur Handlung: Das Ehepaar Eva und Jan Rosenberg lebt in einem einfachem, einsamen Landhaus auf einer Insel, in der Nähe eines Festlands mit einem kleinen Städtchen. Eine kleine, einsiedlerische Idylle zweier Künstler. Die jedoch von Außen durch immer deutlichere Anzeichen einer politischen Krise, ja vielleicht eines (Bürger-?)Krieges gestört wird. Sei es durch Zeitungsartikel, empfundene Unruhe und Gerüchte in der Stadt, oder gar durch tief vorbei fliegende Düsenjets. Einer Nacht landen plötzlich nicht näher identifiziertbare Militärs auf der Insel, stürmen das Haus, nehmen die beiden Einwohner kurzfristig gefangen, fragen diese aus. Und zerren die beiden schließlich vor eine Kamera, damit diese eine erzwungene, „spontane“ Erklärung über die Truppen abgeben – indem sie die Aktion als „Befreiung“ bezeichnen sollen. Was die beiden auch tun. Später ziehen die Truppen ab, der Grund ist ein starker Gegenangriff aus dem Festland. Das Ehepaar scheint nun wirklich befreit zu sein – doch zu ihrem Unglück beschließen die Autoritäten der Stadt, die beiden als Kollaborateure zu verhaften. Der Grund ist das... von allen über TV gesehene „Interview“ mit dem Lob über die „Befreier“...

Bereits hier kann man kaum halten, um nicht auszurufen: Ist doch wie Ukraine, ist doch wie Syrien, wie Zentralafrika! (etc. etc.). Denn Bergman hat – was den Film meiner Meinung nach zusätzlich auszeichnet – keine historischen, politischen oder ethnischen Bezüge oder nicht mal Anspielungen dargestellt. Man weiß nicht, welche Seite welche Ideologie oder Land repräsentiert, ob es sich um eine Zukunftsvision, Gegenwart, oder Vergangenheit handeln soll. Es gibt nicht mal die „Guten“ und die „Bösen“.

Doch, es gibt sie. Es sind jedoch nicht die militärisch-politischen Gegner, sondern die Menschen. Der Film fokussiert auf das Gute, wie das Böse, in Personen. Es geht um individuelle, ethische Werte, Sichtweisen, Entscheidungen - und somit das Handeln (oder Unterlassen).

Zurück zur Handlung: Jan und Eva sind im Arrest, man weiß nicht, was ihnen droht: Gefängnis, Todesstrafe, Verbannung, Geldstrafe?... In dieses Klima der Ungewissheit und der Angst – befeuert durch eine polizeilich-politische Obrigkeit der Autoritäten (die jede Erklärung, jede Kommunikation ablehnen) – tritt nun der Oberst Jacobi ein, der inzwischen in dem Städtchen die Rolle eines Verwalters angenommen hat. Jacobi ist ein alter Bekannter der beiden – und erwirkt nach einer Unterredung mit Eva die Freilassung des Ehepaars. Der Preis dafür - was Jan nicht erfährt - ist Jacobis Affäre mit Eva. Später besucht Jacobi die beiden auf der Insel, und übergibt Eva heimlich ein Bündel Geldscheine. Ein Preis für ihre „Dienste“? Das fragt sich auch Jan, als er beides gleichzeitig entdeckt: das im Schlafzimmer versteckte Geld und die Affäre Jacobis mit Eva (die er aus dem Fenster zufällig beobachtet). Kurz darauf wird das Haus erneut von Militärs umzingelt: diesmal sind es die aus der Stadt, die Jacobi der Korruption bezichtigen. Jacobi möchte sich retten, sein Plan ist, den Soldaten sein Geld anzubieten. Doch dieses ist auf einmal nicht da – Jan hat es versteckt, was Eva nun ahnt: Jan weiß von der Affäre, von dem Geld, und will sich an Jacobi rächen. Seine Rachegelüste gehen jedoch sogleich nach hinten los: Jacobi wird verhaftet, mißhandelt, und soll auf der Stelle exekutiert werden – und dies soll nun Jan ausführen, dem die Soldaten eine Pistole reichen. Nur so kann er beweisen, meinen diese, doch kein Kollaborateur zu sein. Er tut es.

Die Soldaten ziehen ab, Eva bleibt trotz Streit dennoch bei Jan – mit der Erkenntnis, ihn nicht mehr zu lieben und lieben zu können. Am Ende des Films fliehen beide in einem Flüchtlingsboot übers Meer, ein nur scheinbar offenes Ende, denn das Wasser ist zuende, und keine Rettung in Sicht.

Die Geschichte erinnert mich sehr an viele Schicksale von Menschen, die ähnlich wie Jan und Eva schwere Schicksalsschläge und Extremsituationen eines Krieges erlebt hatten – etwa im 2. Weltkrieg oder in den jugoslawischen Bürgerkriegen. Dabei kam es immer wieder vor, daß sie vor schwierigen ethischen Entscheidungen standen: Bleiben oder gehen? Sich passiv oder aktiv verhalten? Kollaborieren oder nicht – und mit wem und wann? „Patriot“ oder „Bürger“ zu sein? Bedrohte Nachbarn beschützen und unterstützen? Leben retten, und dabei das eigene Leben riskieren? Wie weit zu gehen um seine in Friedenszeiten deklarierten Werte zu verteidigen, zu leben? Gleichzeitig auch: der Versuchung widerstehen oder doch einen kleineren oder größeren Nutzen aus der Situation zu ziehen? Etwa den Nachbar als „Jude“ oder „Partisan“ oder „Moslem“ bei den Behörden verpfeifen – und danach sein Geschäft, seinen Job oder seine Wohnung zu übernehmen? Oder gar wie Jan – sich einfach für etwas rächen? Eine vor Jahren ausgespannte Freundin oder einen besseren Karrieregang?

Solche Entscheidungen – für etwas außergewöhnlich Gutes wie Böses – sind gerade in solch Extremsituationen häufig. Ich denke, daß trotz der Frage nach der Schuld für die Entstehung und Fortführung der Kriege und Konflikte – wofür meist zurecht eher die politischen, wirtschaftlichen, religiösen und militärischen Eliten verantwortlich sind (aber nicht nur) – die Frage nach dem ethischen Verhalten in Fällen wie Eva und Jan dennoch persönlich, individuell bleibt. Man kann sich als Person, in solchen Situationen, dieser Verantwortung, der Fragen und der Antworten nicht entziehen. Jedes Handeln wie Nicht-Handeln ist eine Antwort, eine Entscheidung. Für die es – was die Sache schwieriger macht – nie die eindeutige Bewertung geben kann. Weder eine 100%ig verurteilende noch eine, die uns sagt: Du hast vollkommen richtig gehandelt. War es wirklich notwendig, daß sich Eva Jacobi ausliefert? Wäre sonst die Folge eine Exekution – oder nur ein kurzes Gefängnis? Oder gar nichts? Hat sie voreilig oder fürsorglich gehandelt? Aus Angst oder Gier? Zumal – warum hat sie die Affäre fortgesetzt? War sie auch dazu gezwungen? Dachte sie, gezwungen zu sein? Hat sie darin eine „fortgesetzte Sicherheit“ gesehen? Oder gar – wollte Sie Jan eine Lektion erteilen „wie man im realen Leben zurecht kommen muß“? Und überhaupt Jan: Kann eine persönliche Verletzung durch den Betrug der Ehefrau sein Handeln irgendwie rechtfertigen? Oder „nur“ verständlich machen? Hätte er die Folgen seiner „kleinen Rache“ (Geld verstecken) wissen können, wissen müssen? Zumal, als die Soldaten das Geld dann doch finden – wieso hat er verneint, das Geld sei seins, und bestätigt, es muss Jacobis Geld sein? Theoretisch hat er eigentlich die Wahrheit gesagt, in der Tat jedoch hat er Jacobi noch weiter ins Verderben gebracht. Oder hat er nicht ahnen können, daß man Jacobi gleich erschießen würde?...

Wie ich anfangs schon erwähnte: die Szenen des Filmes lassen mich schnell an aktuelle Konflikte und Kriege denken. Und an genau solche zwischenmenschliche Situationen voll ethischer Zwiespalte. Jan und Eva und Jacobi könnten derzeit genauso gut in einem Dorf nahe Donetsk oder in Mossul sein. Tausende, wenn nicht Millionen Menschen in Syrien, Zentralafrika oder Ukraine stehen jeden Tag vor harten Entscheidungen. Was tun, was nicht tun? Was sagen, wann lieber schweigen? Wann bleibt man standhaft, wann verbiegt man sich – und was davon ist wann sinnvoll, was zu rechtfertigen? Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Zumal es eine klare, eindeutige Antwort nie geben wird – auch nicht vom eigenen Gewissen.

Ich selbst hatte bisher das Glück, nicht in einem Krieg zu leben und nicht in eine solche Situation zu geraten. Ich hatte jedoch eine „light version“ einer solchen Situation, bei der ich mein Verhalten bis heute verurteile. Es war im Frühjahr 1999 in Bosnien-Herzegowina, ich besuchte alleine das Städchen Visegrad im Südosten des Landes. Visegrad war dafür bekannt, eine der „dunkeltsten“ und extremsten „Nester“ serbischer Nationalisten zu sein, ebenso wie für grauenhaften Vertreibungen und Morde an muslimischen Einwohnern 1992 am Anfang des Krieges. Ich war dennoch absichtlich dort, da ich der Meinung war, daß man – als Mitarbeiter einer „westlichen“ NGO – gerade in schwierigen Zeiten (der Kosovo-Krieg und Bombardierungen Rest-Jugoslawiens haben gerade vor wenigen Wochen begonnen) in diese Gebiete fahren sollte um weiterhin Präsenz zu zeigen. Um mit lokalen Kollegen wie sonstigen Menschen einfach zu reden. Entgegen der streng verfassten Fax-Schreiben sämtlicher Botschaften, die „von Reisen in diese Gebiete vorübergehend dringend abraten“. Ich wurde auch trotz der fremdsprachigen Logos auf meinem Auto freundlich aufgenommen, hatte viele gute Gespräche, die vielleicht nicht die weltpolitische Lage entspannt, so doch vielen Menschen gut taten. Und dann kam das eine lange nächtliche Gespräch bei Dragan, den ich vorher nur flüchtig kannte – und der mit Unterkunft für diese Nacht in seiner Wohnung anbot. Es wurde schnell klar, daß dieser 20jähriger junger Mann ein harter serbischer Nationalist ist – oder sich zumindest so darstellte, wie ich gehofft hatte. Wir sprachen viel über Geschichte, Vorurteile, den Krieg, sein persönliches Schicksal. Es war ein ehrliches, tief gehendes Gespräch – er erzählte vom Tod seines Vaters in Sarajevo am Anfang des Krieges (wofür er die Moslems nun hasse), er bestätigte aber auch (wie kaum jemand zuvor in Visegrad), daß es 1992 tatsächlich zahlreiche Kriegsverbrechen hier gab. Im Laufe des Gesprächs machte ich einen Fehler, den ich mir bis heute nicht verzeihen kann. In der Hoffnung, ihn weiter zu positiven Aussagen zu bringen, wie daß andere Ethnien „an sich“ auch gut seien oder daß Krieg und Gewalt abzulehnen sind und friedliches Zusammenleben, „irgendwie“, das beste sei – habe ich einen Handel angefangen. Ich meine einen taktisch-rhetorischen Handel, in dem Sinne: Ich mache dir ein Zugeständnis, komme dir und deiner Sichtweise etwas entgegen – und dafür kommst du meiner entgegen. Dabei habe ich einige seiner Vorurteile über Kroaten und Moslems teils bestätigt – ohne es wirklich zu denken.

Ob es unsere Diskussion oder gar Dragans Sichtweise positiv beeinflusst hat, weiß ich nicht. Ich bezweifle es eher. Es wäre nicht notwendig gewesen, denke ich jetzt, denn schon alleine meine Anwesenheit und das Gespräch waren ihm wichtig. Geschadet hat mein „Verrat“ auch niemandem wirklich. Und dennoch blieb für immer ein mulmiges, bitteres Gefühl. Ich fühlte mich vielleicht nicht wie Judas, aber schon ein bisschen wie Petrus, der seine Freunde verrät. Da half es auch nichts, später meinen nähesten muslimischen oder kroatischen Freunden von meinem „Verrat“ zu beichten. Auch nicht der Gedanke daran, daß Dragan kurz davor eine Handgranate aus einer Blumenvase zog, um mich damit etwas zu beeindrucken oder besser argumentieren zu können („Verstehst du jetzt, warum es hier nie Frieden geben wird?...“) - was zusammen mit dem Ort (Visegrad) und der angespannten Lage draußen (Jugoslawien-Krieg) dennoch nicht als Ausrede gelten kann. Nachträglich blieb das Gefühl der Scham, und nach Bergmans Film würde ich sogar sagen – der Schande. Sowie der wichtigen Erkenntnis, daß ich nie 100% sicher sein könnte, in einer ähnlichen Lage nicht wie Eva oder Jan sich zu verhalten...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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