Die besetzten Themen-Gebiete

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Am 18.12.2009 war es endlich doch soweit: die BürgerrechtlerinAminatu Haidar durfte in ihre Heimat Westsahara zurückkehren, und hat ihren inzwischen 32-tägigen Hungerstreik auf Lanzarotte beenden. Ihr Aufenthalt auf der spanischen Urlaubsinsel war weder Erholung noch eine freiwillige Entscheidung, sondern eine Abschiebung seitens Marokko (an der sich Spanien als Mittäter und Abschiebeziel beteiligte), welches seit 1975 West Sahara besetzt. Bei ihrer Rückreise aus den USA missfiel den marokkanischen Beamten unter anderem Haidars Eintragung unter der Rubrik „Nationalität“: sie schrieb dort statt „Marokko“ - „West Sahara“.

Erfreulich war nicht nur das Nachgeben Marokkos und die Rückkehr Haidars in ihre Heimat, sondern auch die Tatsache, dass durch diese Ereignisse (Abschiebung wie Hungerstreik) die Weltöffentlichkeit, inklusive Deutschland, sich an das Problem der besetzten West Sahara erinnerte – oder gar zum ersten Mal davon erfuhr. Und dass für einige Tagen, sogar Wochen – je nach Medium – dieser ungelöste politischer wie menschlicher Konflikt einige Minuten Sendezeit und mehr Zeitungsspalten bekam. Da aber weder Sondersendungen geschaltet noch Extraausgaben gedruckt wurden, bedeutete es, dass andere Themen, andere „besetzte Gebiete“ weichen mussten, weniger Aufmerksamkeit bekamen.
So zum Beispiel die „besetzten Gebiete“, die nur deswegen so benannt werden, weil es politisch unkorrekt erscheint, sie „Israel“ oder aber „Palästina“ zu nennen, und deren Problem als „Nah-Ost-Konflikt“ genannt wird. Dadurch wird geographische Nahe Osten doch sehr klein gemacht, während das Palästina-Israel-Problem vor allem in Europa und in den USA zum andauerndem Weltproblem aufgepeppt wird, und dadurch anscheinend ein Abonnement des Öffentlichkeitsinteresses besitzt und beansprucht.
War und ist die Israel-Palästina-Story international wie für uns tatsächlich so wichtig und entscheidend, und so viel bedeutender als andere besetzte Gebiete (und Themen)? Dank Dalai Lama, Richard Gere und Olympia 2008 wissen wir etwas über Tibet. Dagegen scheint das uigurische Xinjiang, ebenfalls seit über 50 Jahren von China besetzt kaum das Interesse zu wecken. Bleiben wir in der Region: Wie wäre es vielleicht mit Kaschmir, das dreifach besetzt ist: von Indien, Pakistan, und sogar (wiedermal, auch wenn nur eine ungemütliche Hoch-Himalaya-Region) China? Und auch Osttimor, jahrzehntelang von Indonesien besetzt, hat sich eher still und leise unabhängig gemacht – vielleicht gerade Dank der fehlenden Weltaufmerksamkeit. Ebenso ging es dem von Südafrika bis in die 90er Jahre besetzte Namibia.
Alles viel zu weit weg? Dann hätte ich noch Zypern, dessen Norden seit den 70er Jahren praktisch von der Türkei besetzt und kontrolliert wird. OK, letzte Chance: Nordirland!
Fast überall hätten wir genug (Debatten-)Zündstoff, genügend historische und politische Für-, Wider- und Aber-Argumente, sogar die huntingtonische „Clash of Civilizations“-Theorie ließe sich überall schön als Pseudoargument einflechten.
Nein, keine Chance – wir bleiben als treue Konflikt-Fans lieber bei unseren lieben Palästinensern und lieben Israelis (wer es religiöser mag: Juden und Arabern). Ja, es scheint, dass wir in Europa und den USA eher die Fans eines Konflikts sind, als einer Lösung – die hätte uns wohl enttäuscht, ähnlich einer Nachricht über die endgültige Abschaffung des Ruhr-Derbys zwischen Schalke 04 und Borussia Dortmund.
Denn der israelisch-palästinensischer Streit bewegt die Gemüter und Stammtische tatsächlich wie Fussballspiele (USA: wie Baseball). Man bedient sich eher der Emotionen wie „Überzeugung“, „Anteilnahme“, „Rücksicht“ oder „ich habe schon immer...“-Manier. Oder aber lächerlicher „Argumente“ - die entweder aus lang her geholter Geschichte stammen (nicht nur die Jahre vor 1948 oder 1967, sondern sogar der alttestamentarische Zitate), oder gegenwärtige Mini-Argumente und Gründe eines Kindergartenstreits besitzen: „Aber er hat mir vorher die Schaufel weggenommen, und geschubst hat er auch!“
Wir lieben diesen Konflikt. Umso mehr, je weniger wir von der Region wissen (das Reisen dorthin gilt seit Jahrzehnten als gefährlich und ist somit eine praktische Ausrede). Hauptsache man nimmt Partei für eine der Seiten. Die deutsche Regierung ist ja schon immer (na ja, seit 1945...) auf der Seite Israels gewesen, offiziell, geschichtsbedingt, unumkehrbar und sowieso (bis auf Libanon-Besuche von Heidemarie Wieczorek-Zeul). Die moderaten Konservativen sind wie meist gleichgültig („sollen die sich da unten...“), während die Sozialdemokratie wie bei allen Themen gespalten ist („Ja, aber...“). Da hat es die „echte“ Linke einfacher, auch wenn solche Stimmen höchstens halbprivat und auf der Kommunalebene ertönen – man versucht weiterhin der NPD erfolgreich die Wähler zu entziehen. Die Links- wie Rechtsextremen sind dagegen richtig im Dilemma: Während die NPD überlegt, wer denn schlimmer für Deutschland sei – die kaum vorhandenen aber einflussreichen Juden oder die übervölkernden sozialgeldbeziehenden Moslems, diskutieren Linksautonome in Hamburg hochemotionell über die Solidarität mit Palästina und/oder Israel.
Und fast jeder „Privatmensch“ wird zugeben, sich für diesen Konflikt wenn nicht zu interessieren, so doch „eine Meinung zu haben“ - die meist ein Ergebnis von Emotionen und Empfindungen (Vorurteile? Sympathien? Gewissensbissen?) als von politikwissenschaftlicher Analyse.
Gut, Deutschland hat es „geschichtsbedingt“ nicht leicht: hier hat sowohl ein jüdischer Deutsche den Kommunismus erfunden, wie auch ein Oberösterreicher versucht, Juden vollkommen zu vernichten.
Gehen wir vielleicht etwas weiter östlich, nach Polen. Die bekanntlich und offen (wenn auch unmotiviert) antisemitisch sind. Was im wahrsten Sinne dieses Wortes („Semit“) bedeutet, dass der „Durchschnittspole“ die Israelis (von denen die meisten Juden sind) und die Palästinenser (die ohnehin Araber und zumeist Moslems sind) nicht mag. So lahm aber diese Abneigung ist, so lahm auch die – durchaus geführte – Diskussion ist. Man bedient sich höchstens der Argumente aus dem Jahre 1967, als der gesamte Warschauer-Block auf „Anti-Israel und Imperialismus“ und „Für unsere arabischen Kameraden“ geschaltet hatte. Und genau diese Propaganda-Slogans, wie auch die regimekritischen Gegenargumente der Oppositionellen und die Erinnerung an die Ausweisung („empfohlene Ausreise“) zigtausender jüdischer Polen (ja, es waren nach 1945 noch ein paar geblieben bzw. sogar zurückgekehrt) sind die „frischesten“ Standpunkte in meiner Heimat.
Wenn schon jemand dazu etwas neueres einfällt, so eigentlich nur in Bezug auf die USA: Entweder man beschimpft Israel als einen amerikanischen Vorposten, und freut sich dass „die Araber es den Amis zeigen“ (11. Sept, Irak, aber auch Iran und Afghanistan, die als als „arabisch“ definiert werden – wobei nirgends ein Palästinenser sich als „erfolgreich“ erweisen konnte...). Oder aber man lacht über „die blöden, primitiven Araber“, und lobt Israel als einen mustergültigen, modernen Partner der USA (der man gerne auch wäre, inklusive der Kontoüberweisungen).
Man sieht, dass auch die „polnische Debatte“ kaum Inhalte, dafür viel „Gefühl“ liefert.
Ein Ausflug in die erwähnten USA lohnt sich nur, wenn man den Besuch einer neokonservativen Veranstaltung beiwohnen möchte, am besten einem Gottesdienst einer evangelikalen Gemeinde (Übertragungen bei manchen Kabel-TVs auch Sonntags in Deutschland zu finden!) Dort könnte man nicht nur von der unbedingten Solidarität der „Christen“ mit den „Juden“ erfahren, sondern auch Belege aus dem Alten Testament vorgelesen und erklärt bekommen, die eindeutig belegen, dass nicht nur das „West-Jordan-Land“, sondern viel mehr „Rundherum um Israel“ eigentlich – Israel gehören sollte. Wer es seichter mag, der nehme an einer hollywood-demokratischen Veranstaltung mit Barbra Streisand & Steven Spielberg teil, es gibt zumindest ein Buffet. Die Amerikaner streiten also nicht für Israel / gegen Palästina oder umgekehrt, sondern eher darum wer von ihnen (Amerikanern) dieses kleine Land besser vertritt und lobbt.
Ein Sprung -von mir aus über die Beringstrasse – nach Russland, wo man ein ähnliches, auch wenn spiegelverkehrtes Phänomen erleben könnte. Hier werden generell Israel und „die Juden“ mindestens „kritisiert“. Die „schriftlichen Beweise“ reichen zwar nicht in die Zeit von Moses, doch eher ins 19. Jahrhundert – denn in den meisten Argumenten klingt die Lektüre der „Protokolle der Weisen von Zion“. Wen kümmert es schon, dass dieser Text genauso wie das Alte Testament eine Phantasie ist – die Juden sind an allem Schuld. Strittig wird unter den Russen höchstens die Existenz Israels als Staat (dass ja manche Palästinenser, wie die Hamas, gerne gefährden würden). Denn – gäbe es dieses Israel nicht, könnten nicht Hundertausende russische Juden dorthin so leicht auswandern – und würden hier bleiben! Sollen also diese Araber lieber nicht zu erfolgreich sein...

Tja, sollte man bei angesichts der Qualität solch emotioneller Anteilnahmen und Solidaritätsbekundungen für die „Besetzten“ und gegen „die Besatzer“ in diesem einem Fall doch vielleicht froh sein, dass kaum jemand in Russland, USA, Polen und Deutschland über Xinjiang redet und sich für Kaschmir engagiert? Dass ich noch nie ein Graffiti mit dem Aufruf „Free Porto Rico“ gesehen, nie ein T-Shirt mit der zypriotischer Flagge bewundern konnte? Zu keiner Unterschrift für Ulster gefragt wurde – besser so? Schade finde ich dennoch, dass immer noch mehr kleinkarierte Palästinensertücher als sahraische Schals im edlen Nomanden-Blau von jungen Menschen auf den Straßen getragen werden, auch wenn beiden wieder leider an Fussball-Fans mit ihrem „Schmuck“ erinnert.
Vielleicht reden die Polen am liebsten von den eigenen Geschichte des Besetzt-Seins, und haben kaum Zeit für die Probleme der anderen (wie auch für das Theme der eigenen Besatzungen). Deutschland? In beiden Teilen hat man zwischen 1945 und 1990 ungern von sich behauptet, dass man besetzt sei. Daher vielleicht die Abneigung zu diesen Themen.
Sollten wir also wiedermal das Thema „West Sahara“ und die anderen „Besetzungs-Probleme“ wie früher den USA und Russland überlassen? Dass die Regierungen kaum „immerwährende und besondere Brüderschaftsbekundungen“ an China abgeben, ist jedenfalls mal positiv.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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