Die Straßenbahn vor der Skenderia

Kriegserinnerungen Sarajevo, 2. Mai 1992: Vielen Einwohner der Stadt wurde erst an diesem Tag klar, "dass es Krieg ist". Zu einem der eindringlingsten Symbole wurde eine Straßenbahn.

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„Bio je lijep i suncan dan...“ - „Es war ein schöner und sonniger Tag...“ ist der Titel des 274seitiges Buches, welcher mir beim letzten Besuch in Sarajevo geschenkt wurde. Es beinhaltet 68 Autoren und 68 Berichte über den 2. Mai 1992 – den Tag, der zwar nicht „offiziell“ als Beginn des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegovina gilt (einen „offiziellen Beginn“ kann es gar nicht geben, es wurde von keiner Seite irgendeine „Kriegserklärung“ abgegeben), an dem jedoch zumindest für die Bewohner von Sarajevo klar wurde, dass der Krieg begonnen hat, das er wirklich da ist. Denn bisher gab es zwar hie und dort Barrikaden, Schusswechsel, es bildeten sich Milizen, die manche Teile des Landes oder Stadtbezirke „kontrollierten“, es gab auch vermehrt Berichte über Überfälle, Vertreibungen und Massaker – doch die meisten Bewohner von Sarajevo waren immer noch Optimisten, sie lebten im Glauben, dies seien alles „Zwischenfälle von einigen Verrückten und Kriminellen“, irgendwo in der Provinz oder am Stadtrand, sie glaubten, die bisher friedlich und gemischt lebenden Bevölkerungsgruppen und Ethnien würden nie einen Krieg wollen, und daher nicht zulassen. Sie glaubten, „in wenigen Wochen oder schlimmstenfalls Monaten“ würde der Spuk vorbei sein. Erst der zweite Mai machte ihnen allen klar, dass sie falsch liegen. Dass der Konflikt erst richtig begonnen hat, dass man ihn nicht mehr als „vereinzelte Scharmützel“ abtun kann, dass es Krieg ist – und was für einer, mitten in ihrer Stadt.

Als ich mich für das Buch artig bedankte, bei einer Person, die nur „Bekannte eines Freundes“ war, war ich sehr skeptisch. Habe ich seit 1996 nicht genug Kriegsgeschichten gehört und gelesen? War es nicht damals auch mein Vorhaben, die Literatur in Bosnien von der „patriotischen“ (also nationalistischen) und pathetischen (also meist schlechten bis sehr schlechten) Texten voller Kriegsthematik zu befreien? Ist das Buch nicht schrecklich einseitig? Was bringt es, sich mit diesen Themen 20 Jahre danach zu befassen? Und – sind die Berichte selbst nicht durch die zeitliche Distanz verdreht, verschönert, verschlimmert, gar verlogen?

Irgendwann las ich das Buch doch. Mal ging die Lektüre schnell voran, mal musste ich mich wie durch ein Dickicht oder Matsch durchkämpfen. Das lag sowohl manchmal am Stil, wie auch manchmal an den Inhalten. Manche Texte sind nicht mal eine halbe Seite lang, andere ziehen sich über zehn oder mehr Seiten. Das Lesen fiel leichter, wenn ich bekannte Geschichten und Ereignisse in weiteren Details kennenlernen konnte, oder durch Straßennamen, Plätze, Gebäude die Stadt „neu“ erleben konnte. Das Lesen fiel schwerer, je mehr ein Text entweder sehr politisch, einseitig wirkte, oder wenn er sehr persönliche, psychologische Seiten des Autors oder der Autorin behandelte.

Das Buch war so konzipiert, steht zumindest im Vorwort des Herausgebers Nihad M. Kresevljakovic, dass hier die damals als Tagebucheinträge oder einfach Texte entstandene Eindrücke und Erinnerungen den Tag persönlich, subjektiv darstellen würden. Schon nach einigen Berichten wurde meine Skepsis bestätigt: Immer wieder konnte ich feststellen, dass es nicht ganz so stimmt mit dem „damals geschrieben“ stimmte. Mal tauchten Informationen oder Beurteilungen auf, die sich auf spätere Zeit bezogen, oder es wurden z.B. (para-)militärische Einheiten verwechselt oder mit Namen benannt, welchen sie damals noch gar nicht hatten oder die es am 2. Mai 1992 noch gar nicht gab („Zelene Beretke“, „Patriotska liga“, „Armija BiH“). Viele Texte sind auch sehr nationalistisch, nicht nur feindlich gegenüber „den Serben“, sondern auch diese ethnische Gruppe und deren Einheiten pauschalisierend. Aber genau hier konnte ich – je länger die Lektüre fortschritt – zwischen den „echten, damaligen“ und „vielleicht etwas später verfassten“ Texten unterscheiden. Denn wie viele Texte und Autoren in eben demselben Buch bezeugen selbst, dass am 2. Mai 1992 der zwischenethnische Haß (berechtigt oder nicht) bestimmt (noch) nicht so heftig war, wie wenige Tage, Monate, und Jahre später. Sie bezeugen, wie überraschend der Angriff und die heftige Bombardierung auf die Stadt für alle Einwohner war, sie tragen in sich mehr das gemeinsame, „multiethnische“ Entsetzen („wir alle hier“), als die später erfolgte Einordnung in „wir / Muslime“ und „die – Tschetniks / Serben). Ein Jugendlicher beschreibt sehr glaubwürdig seine Verwirrung, die aus dem selbst Gesehenen und den TV-Berichten entstand: Er konnte sich nicht vorstellen, dass die JNA (Jugoslawische National Armee) mitkämpft – und zwar nicht um die Stadt zu schützen. Er wusste auf einmal nicht mehr, „wer sind die anderen, wer sind die unseren?“ - diese Einordnung war für ihn absurd, ja irreführend, als er von einem Passanten vor den in einiger Entfernung schießenden Soldaten gewarnt wurde. Für ihn waren die JNA-Uniforme bis zu diesem Tag ein Symbol „unserer Armee“. Man mag darüber den Kopf schütteln („Hat er nicht mitbekommen, was politisch passiert, dass sich Bosnien von Jugoslawien unabhängig erklärt hatte und diese Armee hier in der Stadt nur noch als geduldete Einheit stationierte?“) - doch ähnlich dachten viele Menschen damals in Sarajevo. Das Entsetzen dieses Tages war nicht nur der überraschende Angriff, nicht dessen Brutalität und sie – Zivilisten und die Stadt – als Ziel, sondern daß „dieser Staat“ (welchen meinten sie wohl damit?... Noch-Jugoslawien oder Schon-Bosnien? Vielleicht wollten die meisten damals noch nicht eindeutig unterscheiden?) zerfällt, dass dessen Bürger nun aufeinander schießen, dass Hass, Gewalt und Tod in dem von Tito erschaffenen und erklärten Vielvölkerstaat herrscht.

Großen Anteil an den im Buch verfassten Berichten hat das Fernsehen von Sarajevo. Denn dieses hat es nicht nur geschafft, weiter zu senden, sondern auch aufzunehmen. Und live zu senden. Daher sind viele Erzählungen des Buches – Erzählungen der erlebten Augenblicke oder Stunden vor dem Fernseher. Ob zu Hause oder im Büro, alleine oder in Gruppe, zufällig zugeschaltet (so mancher hat den Anfang des Tages verschlafen...) oder dazu aufgefordert („Das musst du sehen! Schalt den Fernseher an!“). Im Buch werden vor allem zwei Themen, oder Bilder immer wieder wiederholt. Das eine ist die stundenlange Berichterstattung und Live-Verhandlungen über die Geiselnahme und Befreiung des bosnischen Präsidenten Alija Izetbegovic am Flughafen von Sarajevo – welcher (Flughafen) von den serbischen Einheiten besetzt wurde, und die den von den Friedensverhandlungen (u.a. eben mit ihnen!) aus Genf zurückgekommenen Politiker am Flughafen festhielten.

Doch mich hat am meisten ein anderer Bericht, anderes Bild „beeindruckt“ - wenn man es so nennen darf. Ein Bild, welches nicht nur auf dem Buch-Cover in Schwarz-Weiss erscheint, sondern welches sich in sehr vielen Buch-Berichten – ob als Fernsehbild, als kurze Erinnerung, oder als live Erlebtes – wiederholt. Das Bild der bombardierten, brennenden Straßenbahn auf der Kreuzung vor der Skenderia, also praktisch mitten in der Stadt, direkt vor dem – ebenfalls bombardierten – olympischen Sporthallen. Dieses Bild hat die Menschen am meisten schockiert. Die Tatsache, daß ein derart ziviles, unschuldiges Objekt wie eine an einer Haltestelle wartende Straßenbahn mit Granaten von den gegenüber liegenden Hügeln beschossen wurde, mit an dem Tag unbekannter Zahl von verletzten oder toten Passagieren. Es ist zu lesen, wie erschüttert, ja sprachlos die Menschen ob dieses Bildes (im TV oder vor Ort) waren, wie grausam und unverständlich ihnen gerade dieser Angriff war. Es war die Steigerung des Entsetzens: Während die Menschen am morgen, als die Angriffe begannen, schockiert waren – haben sie sich mit diesem Schrecken und der Situation in einigen Stunden „arrangiert“: schnell untereinander gelernt, wie man am besten und welche Straßenzüge überquert, wo welche Keller als Schutz dienen können, und wie eine heranfliegende Granate klingt. Doch die brennende, zerstörte Straßenbahn von der Skenderia war ein Schock anderer Art. Eine Steigerung. Ein Symbol, dass dies keinesfalls nur ein „militärischer“ Angriff oder gar Krieg sei, ein Beweis, wie barbarisch Menschen zu Menschen werden können. Das Entsetzen der bombardierten Straßenbahn wiegt mehr als das Entsetzen über das brennende Gebäude der Hauptpost oder sogar mehr als die Granaten auf dem Plätzchen vor der Nationalbank, „Ceka“ genannt, dem beliebtesten „meeting point“ (um weiter zu ziehen) junger Leute in Sarajevo.

Wie schon gesagt, das Buch ist sehr einseitig – es beinhaltet nur die Berichte der Menschen, die sich damals in der Stadt befanden. Interessant wäre es, wenn jemals möglich, etwas von denen zu erfahren, die sich auf den Hügeln befanden. Erst recht die Gedanken und Gefühle des Schützen, welcher es „geschafft“ hat, dass die Straßenbahn von der Skenderia von ihrer Haltestelle nie abfuhr.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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