Entschuldigung an Sahra

Kapitalismuskritik Spät aber doch - eine programmatsiche Entschuldigung an Sahra Wagenknecht.

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Vor über drei Jahren habe ich an dieser Stelle im „Freitag“ einen Blog veröffentlicht, welcher sich kritisch mit der Diskrepanz zwischen Sahra Wagenknechts medialem Erscheinungsbild und ihren inhaltlichen und rhetorischen Fähigkeiten beschäftigt hatte. Als „Beweisstück“ hier der Link - https://www.freitag.de/autoren/lukasz-szopa/sahra-wagenknecht-2013-eine-kommunistische-ikone .

Kurz gesagt meinte ich damals: „Blendendes Aussehen – wenig Inhalte“.

Diese Meinung möchte ich spätestens heute nicht nur relativieren, sondern gar revidieren. Denn während das mit dem guten Aussehen immer noch stimmt, sind für mich die Reden und Texte, Positionen und vor allem Argumente dieser Politikerin eine willkommene, notwendige und qualitative Bereicherung des politischen und wirtschaftlichen Diskurses in Deutschland und Europa geworden. Es ist also eine Entschuldigung meinerseits fällig.

Der Grund meiner 180-Grad-Meinungswende liegt natürlich zunächst bei mir selbst. In dem ich den letzten Jahren mehr und genauer zuhörte und las. Aber auch weil ich an der Rhetorik, Argumentationslinien und Themen Frau Wagenknechts Punkte entdeckt habe, die mir vor drei Jahren entweder entgangen sind – oder aber bei ihr neu hinzugekommen sind. So gesehen kann es auch sein, dass auch Änderungen (Entwicklungen?) bei Sahra Wagenknecht Grund dafür sind, dass mir nicht nur ihre Person sympathischer geworden ist, sondern vor allem dass ich eine große Nähe und Überschneidung ihrer Anliegen mit Themen und Punkten sehe, die mir wichtig sind – vor allem in Wirtschafts- und Finanzpolitik. Zudem bin ich inzwischen entgegen meiner früheren Haltung beinahe begeistert über die ruhige und sachliche (für manchen vielleicht kühle) Argumentationsqualität, die sich deutlich – ob im Talk oder Text – von linkem wie konservativem Populismus und Dampfplauderei anderer Politiker unterscheidet.

Wenn ich schon persönlich „mea culpa“ schreibe, kann ich auch ruhig zugeben, dass den Wendepunkt meiner Sicht Sahra Wagenknechts kapitalismuskritisches Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ markierte. Es war nicht die marketingmäßig humorvolle Anspielung des Titels oder das Cover-Photo der Autorin, welches mich zum Kauf und Lektüre animierten. Schon eher die Bezugnahme auf Ludwig Erhards Ideen und somit der Versuch dieses Buches, darüber nachzudenken, in wie weit man das aktuell vorherrschende System des Kapitalismus nicht mit „Kommunismus“ (welcher gerade der Autorin angehaftet wird), sondern mit der Mischung aus Erhards Idealen und einigen sozialistischen Ideen ablösen könnte. Die Autorin nennt es „kreativer Sozialismus“, passend wäre aber auch - „Der Rheinische Sozialismus“.

An dem Buch beeindruckt mich vieles. Zunächst der ruhige, sachliche, faktenreiche Stil. Die Fakten und Zahlen sind gut dosiert, man hat weder den Eindruck, von statistischen Zahlenbergen überschütten zu werden, noch dass Einzelzahlen oder Einzelgeschichten als „Beweise“ herausgepickt wurden. Die Autorin geht auch strukturiert vor: Der erste Teil konzentriert sich auf Kapitalismus-Kritik, ist jedoch kein linkes Revolutionsmanifest, sondern klingt eher wie der Nachruf auf viele Bestandteile der sozialen Marktwirtschaft - wie soziale Sicherung, Gleichgewicht zwischen Staat und Privatwirtschaft, ja sogar unternehmerische Kreativität – die inzwischen wegen des Kapitalismus zurückgedrängt werden. Sahra Wagenknecht bezieht sich hier nicht nur auf Erhard, sondern sogar auf Joseph Schumpeter. Auch wenn Sie klar die (Wirtschafts-)Politik vergangener Regierungen oder anderer Parteien kritisiert – bleibt sie dabei bei den Sachargumenten, man hat nicht das Gefühl, dass hier jemand Wahlkampf führt, ihre Partei wird kaum erwähnt. Und falls ich erneut persönlich und narzisstisch werden darf: Beim lesen dieser Kapitel widerfuhr es mir regelmäßig, dass ich einen gedanklichen Ausruf von mir gab: Die denkt ja (fast) genauso wie ich, kritisiert dieselben Punkte!

Im zweiten Teil des Buches, welcher sich mit Lösungsideen beschäftigt, wurde ich schon kritischer. Ein bisschen. Denn allen voran war es erfreulich, dass endlich jemand nicht nur die aktuellen Missstände des Wirtschaftssystems kritisiert (ist ja einfach... - nur Frau Wagenknecht macht es gekonnt und spannend), sondern auch sachlich und kreativ programmatische und konkrete Vorschläge unterbreiten, wie man Alternativen und Veränderungen herbeiführen könnte. So gesehen bezog sich hier meine gelegentliche (stumme) Kritik (beim Lesen) auf sachliche Detailfragen oder die Frage, wie weit man bei Veränderungen gehen sollte oder nicht. So ging mir Frau Wagenknecht mit ihren Ideen zur Reform des Banken- und Finanzsystems nicht weit genug (und vom Geldsystem redet sie gar nicht), dafür schienen mir ihre Idee zur Renationalisierung der Industrien zu weit aus dem 19. Jh. zu stammen. Beim Schuldenabbau war sie mir etwas zu wenig radikal, bei Sozialpolitik (Rente, Arbeitslosigkeit) zu sehr in den Adenauer/Erhard-Modellen verfangen (kaum ein Wort übers Grundeinkommen). Hingegen waren Kapitel über die Steuerpolitik oder über den Wettbewerb fast langweilig – weil ich hier meine Positionen zu 100% bestätigt sah.

Das wichtigste an dem Buch und der Autorin ist aus meiner Sicht, dass hier ein spannender und inhaltlich wertvoller Diskurs-Vorschlag unterbreitet wird, voller Analyse, Zahlen, Argumentation, Programmatik und Lösungsansätzen. Keine Demagogie, keine Talk-Dampfplauderei-Wiederholungsschleife, kein Parteiwahlkampf.

So gesehen, im Bezug auf meine früheren Worte über die Autorin und Politikerin, nochmal: Entschuldigung!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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