Fetisch "Wirtschaftswachstum"

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„Die Konjunktur schwächelt“, „Konjunktur ankurbeln“, „blendende Konjunkturdaten“, „die konjunkturelle Lage“, „die Stimmung in der Wirtschaft“etc. etc. Dieses Mantra wirkt doch ziemlich stressig und aufgedreht, muss ich zugeben.
Nicht nur in „Krisenzeiten“ wie jetzt, auch in scheinbar „guten Wirtschaftsjahren“ wird die „Konjunktur“ fortdauernd erwähnt und dabei die Bedeutung des Wirtschaftswachstums als einer der wichtigsten, wenn nicht als der utlimative Maßstab für die Entwicklung des Wohlstands, als dessen Indikator, hervorgehoben.
Oft wird auch ein emotionaler Ton gewählt, so dass man annehmen könnte, man hört einem Arzt zu, der den Blutdruck eines Patienten mit Sorge (oder mit Erleichterung) misst, oder einem Sportkommentator, der den variierenden Zeitabstand zweier Radfahrer bei einer entscheidenden Bergankunft berichtet. Als Ergebnis solcher wiederholten „konjunkturellen Blitz-Nachrichten“ oder düsteren/hellen Wirtschaftsprognosen fürs nächste Quartal“ kann es tatsächlich vorkommen, dass der Blutdruck des Patienten/Lesers/Wählers in Wallung gebracht wird.

Aus meiner Sicht wird aber das Blut etwas zu heiß gekocht, und Worte wie „Konjunktur“ und „Wirtschaftswachstum“ werden unberechtigt nicht nur zum wichtigsten Kriterium einer „guten Entwicklung“ (oder auch eines Zustands, warum immer nur von Entwicklung reden?), sondern gar zur einer Art Parole, einem Fetisch, einem einzigen Ziel.
Ich möchte hier mehrere Einwände gegen die fast vergötterte (abergläubische?) Interpretation des Wirtschaftswachstums vorbringen.

Erstens: Wichtig ist die Entwicklung des Einkommens pro Einwohner:

Man sollte weniger Achtung der Entwicklung des gesamten BIP einer Volkswirtschaft schenken, und viel mehr das Pro-Kopf-Wachstum beachten. Denn ein 5%-Wirtschaftswachstum ist in Wahrheit ein Null-Wachstum, sollte die Bevölkerungsentwicklung ebenfalls 5% betragen. Umgekehrt, könnte man sich in Deutschland, wo die Bevölkerungszahl sinkt, freuen – denn dann ist beim wachsendem BIP die Pro-Kopf-Veränderung noch größer, und auch bei schrumpfender Wirtschaft fällt die negative Veränderung kleiner aus.

Zweitens, die Verteilung des Einkommens:

Auch die Veränderung des BIP pro Einwohner sagt wenig über den „Wohlstand“ der Mehrheit der Bevölkerung aus. Denn dabei wird nur der Durchschnitt des Einkommens aller Einwohner errechnet – also vom Milliardär bis zum Kleinkind einer alleinerziehenden Mutter mit Hartz4. Das kann bedeuten, dass in einem Land mit 10 Mio. Einwohnern ein starker Zuwachs an Einkommen bei den 10.000 Reichsten, die über 70% des Gesamteinkommens verfügen, für jeden Einwohner eine statistische Steigerung des Einkommens angezeigt wird – die natürlich nicht oder in viel geringerem Maße stattgefunden hat.
Man argumentiert da oft, dass dennoch ein Wirtschaftswachstum sehr wichtig sei, da dabei „die Ärmeren“ ja immer noch mehr bekommen würden als in der Vor-Periode. Klingt nach „...auch für die fällt was vom Tisch ab“.
Aber selbst das ist nicht wahr, auch wenn einem die Einkommensunterschiede (nicht deren Wachstumsraten) egal wären: in den meisten westeuropäischen Ländern wie in den USA ist trotz des Wirtschaftswachstums (auch pro Kopf) das reale Einkommen der „unteren 20-40%“ der Bevölkerung seit Anfang der 80er Jahre gar nicht gestiegen. Man könnte böswillig sagen: „die haben (statistisch) zumindest nichts verloren...“ Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass ein „Null-Wachstum“ oder gar ein schrumpfendes BIP oft bedeutet, dass das Einkommen der Reichsten bloß weniger steigt, während das der Ärmsten umso mehr tatsächlich sinkt.

Drittens: BIP und die Nachhaltigkeit:

Bei der Berechnung des BIP wie auch dessen Wachstums wird die Nachhaltigkeit außer acht gelassen. Denn das BIP wird entweder als die s.g. „Entstehungsrechnung" (Summe aller Produktionswerte minus Vorleistungen) oder als „Verwendungsrechnung“ (Konsumausgaben plus Investitionen plus Staatsausgaben plus Export-Überschuß) definiert.
Das bedeutet, dass ggf. auf Lager produzierte Ware (die dann vielleicht niemand kauft) oder öffentliche Investitionen (wenig benutzte, aber nominell teure Brücken), von Militärausgaben wie Panzer (die keinen Wohlstand erzeugen, da sie bestenfalls nur herumstehen) zu schweigen, sofern sie in der kalkulierten Periode erfolgt sind, in die Summe eingehen, aus der das BIP errechnet wird.
Dass dabei möglicherweise auch noch Schulden angehäuft werden, wird ebenfalls in dieser Periode nicht berücksichtigt, höchstens die Zinszahlungen der Schulden der Vor-Perioden verringern das BIP. D.h. das „Leben auf Pump“ erhöht das BIP, und „nur“ die steigenden Zinszahlungen gefährden das BIP-Wachstum (was in manchen Fällen, wie bei US-Immobilienbesitzern oder bei einer ganzen Volkswirtschaft wie Island zu Schwierigkeiten führt).
Dritter Punkt sind die s.g. „natürlichen Ressourcen“: deren Veräußerung trägt zum BIP bei, deren „Erwerb“ (=Förderung) ist aber bis auf die Förderkosten gratis. Hinzu kommt, dass so ein günstiger „Erwerb“ nicht unendlich anhalten (und proportional zum BIP beitragen) kann, da die Ressourcen irgendwann ausgehen.

Zwei Beispiele dazu:

Ein Unternehmen hat über Jahre ein stabiles Einkommen von 1.000.000 EUR (sagen wir, Verkauf von Limonade). Nun nimmt der Unternehmer einen Kredit von 500.000 EUR (zu 5% Zinssatz auf, die er nach 5 Jahren zurückzahlen muss), um in Energy-Drinks zu investieren.
Angenommen, die Energy-Drinks verkaufen sich sehr schlecht (statt des erwarteten weiteren Gewinns von 200.000 EUR / Jahr sind es nur 50.000 EUR, dann jedes Jahr 5% mehr). Also wird der Unternehmer, auch wenn der Kredit zinslos wäre, im Jahr n+5 ein Minus als Ergebnis haben. Dennoch könnte er statistisch, trotz des insgesamt schlechten Geschäfts, in den Jahren n bis n+4 ein stetiges Wachstum von 5% ausweisen können! Und erst das Jahr n+5 würde ihm „das Genick brechen“...

Ein Unternehmer hat einen Wald von dem er lebt, indem er jährlich 5% abholzt und verkauft, da auch dieselbe Menge jährlich nachwächst. Jährliches Wachstum also 0%.
Nun beginnt er, jedes Jahr jeweils 10% mehr als im Vorjahr abzuholzen. Damit sieht es für ein paar Jahre schön aus mit seinem Wirtschaftswachstum, aber (außer er investiert sein verdientes Geld in die Wiederaufforstung) wird er danach keinen Wald mehr haben – und von nichts leben können.

Viertens und letztens: Wozu das ganze Wachstum?

Es ist aus meiner Sicht der wichtigste Einwand, eine grundsätzliche, philosophische Frage, ob man denn „stetiges“ und „langfristig immer währendes“ Wachstum zu seinem Glück braucht.
Natürlich wurden in der Geschichte durch hohe, langfristige Perioden des Wirtschaftswachstums große Teile der Bevölkerung wenn nicht glücklicher (z.B. Deutschland der Erhard-Jahre), so zumindest weniger von Armut bedroht (z.B. China seit den 80er Jahre).
Man darf aber nicht vergessen, dass ein statistisch signifikantes Wirtschaftswachstum erst im 20. Jahrhundert erkennbar war, während man nur bedingt behaupten kann, dass 0-0,5% jährliches Wachstum in den Jahrhunderten davor die Menschheit erheblich unglücklicher gemacht hätte (wenn, dann war es sicherlich nicht in erster Linie das geringe Wirtschaftswachstum).
Ebenso muss man zugeben, dass das Wirtschaftswachstum seit dem 20. Jh. exponentiell wächst – d.h. im besten Falle immer noch nach oben, aber mit konstant sinkenden Raten.
Also warum soviel davon erwarten? Und erst recht – Glück erwarten?
Geht es mir wirklich schlechter, wenn ich statt 2 Stunden mehr pro Tag zu arbeiten, lieber die Zeit mir meiner Familie, Freunden, oder meinem Hobby verbringe? Oder gar spazieren gehe? Macht es mich tatsächlich glücklicher und hebt es meinen Wohl-Stand, wenn ich mir jedes dritte Jahr ein neues (besseres) Auto kaufe, und dazu noch einen Großbildschirm-TV?
Wie wäre es, wenn wir das BIP-Wachstum nicht nur durch die Inflationsrate, sondern auch noch durch eine „Stress-Rate“ bereinigen würden, um so eine „Wohlfühl-Rate“ zu erhalten?

Ich bin der Meinung, wir in den s.g. „Industrieländern" sollten uns von der Erwartung eines langfristigen Wirtschaftswachstums verabschieden, und stattdessen nur ein langfristig stabiles Niveau des BIP erwarten. Und es wäre sinnvoller dann mehr darüber nachzudenken, wofür man man das erwirtschaftete Einkommen sowohl ausgibt, wie auch eventuell anders verteilt.
Es ist wie mit einem menschlichen Körper: es ist zwar in der ersten Lebensphase wichtig, dass er wächst, und es ist immer schlecht, wenn er zu schwach oder gar nicht überlebensfähig ist. Doch ein zu großes Gewicht, ob durch Verfettung oder gedopte Muskelpakete ist ebenfalls ungesund.
Vielleicht ist es an der Zeit, wirtschaftlich etwas abzuspecken, mehr zu trainieren, die Körpermasse besser zu verteilen und die Nahrung sinnvoller zu wählen. Und dem eigenen Blutdruck doch mehr Achtung als dem Wirtschaftswachstum zu schenken.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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