(Kanzler-) Spitzenkandidaten-Hype

Wahlen 2013 Warum stellen Parteien "Kanzler-" oder "Spitzenkandidaten" zur Wahl auf? Warum die Unterscheidung? Warum richten sich die Wähler darauf? Wo bleibt der Parlamentarismus?

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Die Partei „Die Linke“ möchte bis zum nächsten Montag – nach der Landtagswahl in Niedersachsen – warten und dann die („einvernehmlich getroffene“) Entscheidung bekannt geben, wen sie als „Spitzenkandidaten“ für die Bundestagswahl 2013 ernennen will: Gregor Gysi, Gregor Gysi & Sahra Wagenknecht, oder aber auch „Gregor Gysi und ein Kompetenz-Team“ (als wäre Gysi nicht kompetent genug?) - mit oder ohne Frau Wagenknecht.

Die Grünen werden dafür gelobt, daß sie es geschafft haben, diese Frage nach dem „Spitzenkandidaten-Duo“ basisdemokratisch durch eine Urabstimmung der Parteimitglieder hinter sich gebracht zu haben – indem sie durch Katrin Göring-Eckardt und Jürgen Trittin gewohnheitsgemäß eine multidimensionale Doppelspitze (Frau/Mann, Ost/West, Fundi/Realo) erkoren haben.

Als undemokratisches Männergeschacher wird als Gegenbeispiel die Entscheidung der SPD gegeißelt, welche in einer „Dreierrunde“ aus Sigmar Gabriel, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück den letzteren zum „Kanzlerspitzenkandidaten“ bestimmt hat. (In Wirklichkeit fiel die Entscheidung Helmut Schmidt zu, welcher jeden gegen sich in Schach antreten ließ: Gabriel verlor schnell durch zu hektisches Spiel, Steinmeier leistete sich keine Fehler – dafür eine Zeitüberschreitung, während Steinbrück lediglich das Schachbrett falsch aufstellte.)

Die Piraten wie die CDU entscheiden vorerst mal gar nicht. Bei den ersten wird diese Frage erst nach Abschluß des Liquid-Democracy-Verfahrens erst im Frühjahr 2015 erwartet, während die CDU ohnehin nicht nur eine Kanzlerin, sondern nur eine Politikerin zu haben scheint – Angela Merkel. Die auch alleine darüber entscheiden darf, ob sie sich selbst als Kanzlerin erneut als „Kanzler(in)-Kandidat(in)“ aufstellen wird.

Die FDP ähnelt wiedermal „Der Linken“ - und möchte erst die Niedersachsen-Wahl abwarten, und dann wahrscheinlich nicht nur über einen Spitzenkandidaten (Philipp Rösler oder Rainer Brüderle), sondern gleich über die Parteiführung (Rösler oder Brüderle) zu entscheiden.

Dabei gibt es hier nur darüber zu entscheiden, wer am größten und am öftesten an den Wahl-Plakaten erscheinen darf. Denn das Wahlrecht für die Bundestagswahl kennt weder „Kanzler-“ noch „Spitzenkandidaten“. Bestenfalls werden die oben genannten Politiker den ersten Platz einer Landes-Liste ihrer Partei schmucken dürfen – und zusätzlich vielleicht sich um ein Direktmandat in einem Wahlkreis bewerben (manchmal sogar in dem eigenen – wie Merkel & Steinmeier 2009, doch nicht immer – wie Gysi vor vier Jahren). Man kann gar keinen „Kanzlerkandidaten“ oder einen „Spitzenkandidaten“ wählen.

Gewählt werden – theoretisch – nur die Parteien (über Landeslisten) und die Direktkandidaten. Man kann natürlich argumentieren, daß ein (oder mehrere) Spitzenkandidaten einer Partei „für den Wahlkampf federführend“ seien oder „die Partei bei der Wahl am besten repräsentieren“. Oder aber – schon weniger idealistisch, wie es z.B. „Die Linke“, FDP und SPD mehr oder weniger offen zugeben – um möglichst viele Wählerstimmen anzuziehen bzw. „zu mobilisieren“. Also reines Marketing, ähnlich wie bei Real Madrid im Jahr 2003, als David Beckham in erster Linie nicht als taktisch notwendiger Spieler, sondern als glamouröse Werbefigur engagiert wurde. Vielleicht ist die „Spitzenkandidatenkür“ aber noch zynischer und an die Hollywood-Blockbuster-Strategie angepasst, wo ein Star-Schauspieler mehr als der Film (und erst recht dessen Handlung!) in den Vordergrund geschoben und beworben wird. Und dann tatsächlich mehr als der Produzent, Regisseur und Drehbuchautor über den Film entscheiden kann. Ähnlich wie bei Schröder und Merkel als beide Kanzler wurden und Politik betrieben – und zwar mit verschiedener Taktik und Stil, doch klar die Regierung, die Parlamentsfraktion, und erst recht ihre eigene Partei (vom Wähler ganz zu schweigen) beinahe in Bedeutungslosigkeit degradierten.

Wählen wir also bewußt einen „(Kanzler-)Spitzenkandidaten“, und weniger oder gar nicht eine Partei und deren Programm? Damit sie/er fortan selbst zum „Programmhauptpunkt“ wie „Regisseur“ wird? Vielleicht nicht diktatorisch, so doch ziemlich autoritär? Wozu dann die langen Landeslisten, wozu überhaupt Parteifraktionen und das Parlament? (Denn wenn schon jemand einem Regierungschef kontra geben kann, ist es bestenfalls Karlsruhe oder Naturereignisse).

Die zweite Frage ist, warum es nur zwei „Kanzler“-Kandidaten gibt und geben sollte. Zurück zur FDP – und ihrem Mut (für manche: Überheblichkeit) 2002, mit den Konventionen zu brechen – indem sie Guido Westerwelle zum „Kanzlerkandidaten“ ernannte. Die Medien wie der Wähler haben sie dafür nicht belohnt, meist ausgelacht. Wie? Eine Kleinpartei erlaubt es sich, den „Großen“ einen eigenen Kanzlerkandidaten entgegenzustellen? Das sollte doch deren Duopol überlassen werden! Dieser Kleinpartei wurde auch der Optimismus übel genommen, von 18% Wählerzustimmung zu träumen – während sie 2009 spielend 14% erreichte.

Muss das „Anrecht“, nicht nur einen „Spitzen-“, sondern einen „Kanzlerkandidaten“ nur der beiden größten Parteien, CDU/CSU und SPD vorbehalten sein? Nur weil „es immer schon so war“? Nur, weil „es eher unwahrscheinlich ist“, dass es eine der „Kleinparteien“ (FDP, Die Grünen, Die Linke, Die Piraten) mal in den erwählten Kreis der „Top 2“ schafft? Dürfte mal eine Partei, ohne daß sie von einem medialen „Scheißsturm“ erfasst wird, etwa aufgrund aktueller Umfrageergebnisse (die sie „in die Nähe“ der Nr. 2 bringt) eine Person zum „Kanzlerkandidaten“ ausrufen – oder erst wenn dies nach der Stimm- und Mandatsauszählung realistisch erscheint?

Westerwelles Vorstoß 2002 war vielleicht zu kühn, doch wie man z.B. in Baden-Württemberg, Thüringen oder Berlin sieht, ist es durchaus möglich, dass eine dritte Partei (neben CDU und SPD) so stark wird, daß sie nicht nur als Teil einer Regierungskoalition gehandelt werden darf, sondern dann auch mit dem Posten des Ministerpräsidenten spekulieren darf – und es wie "Die Grünen" in Baden-Württemberg auch schafft. Warum also nicht vor der Wahl optimistisch sein statt auf die Umfragewerte blicken – und einen (potenziellen) Regierungschef (oder gar wie in Großbritannien ein „Schattenkabinett) vorzustellen? Haben die Parteien vor einem derartigen Nonkonformismus Angst? Wenn ja, dann haben sie ja Angst vor dem Wähler, der eine solche Herangehensweise bestrafen würde. Sind also die Wähler so konservativ und bieder, daß sie einen „Kanzlerkandidaten“, oder von mir aus einen „Vize-Kanzlerkandidaten“, seitens „Der Linken“, „Der Piraten“ oder „Der Grünen“ (Doppel-Vize-Kanzler?) auslachen und ablehnen würden? (Die FDP hat diese Erfahrung bereits hinter sich).

Die letzte Frage, die ich mir stelle bezüglich diesen „Spitzenkandidaten“-Hypes, ist die Glaubwürdigkeit solcher „Spitzenkandidaturen“ (von der Glaubwürdigkeit der „Spitzenkandidaten“ zu schweigen). Denn leider kommt es oft vor, dass etliche „Spitzenkandidaten“ es nur halbherzig meinen, und nur dann – nach der Wahl - „Spitze“ bleiben möchten, wenn sie auch gewonnen oder zumindest ein Regierungsamt oder andere Spitzenfunktion erreicht hatten. Siehe Norbert Röttgen bei der NRW-Wahl und Renate Künast bei der Berlin-Wahl: Beide haben schon vor der Wahl bekannt gegeben, nur im Falle eines Sieges (bzw. Regierungsbeteiligung) in dem jeweiligen Land und Landesparlament tätig sein zu wollen. Die Führung der parlamentarischen Opposition schien ihnen nicht spannend genug oder zu mühsam – sie lehnten es ab. Und zurecht lehnten die Wähler auch deswegen beide Politiker ab. Etwas glaubwürdiger ist hier Peer Steinbrück, der offiziell verkündigte, nur „Kanzlerkandidat“ und keinesfalls ein „Vize-Kanzlerkandidat“ (unter einer CDU-Kanzlerschaft) sein zu wollen. Man mag es glauben oder auch nicht, man kann es für Wahltaktik halten: Wer stellt sich schon von vornherein als „Nummer 2“ auf, wenn man doch „Nummer 1“ werden will. Wie gesagt, es ist was anderes, nach der Wahl die Führung der Opposition zu verweigern - wenn man einsieht, daß der Wähler auch die eigene Person abwählen wollte (wie bei fast allen abgewählten Ministerpräsidenten – Stoiber, Mappus, und auch Steinbrück seinerzeit in NRW).

Formell wird kein einziger dieser Politiker als „Spitzenkandidat“ gewählt werden. Praktisch glauben allerdings viele Wähler, genau das zu tun – und je mehr sie in diesem „Plakat-Gesicht“-Glauben verfallen, desto mehr werden die Parteien darauf mit „Spitzenkandidaturen“ vor den Wahlen reagieren – und desto mehr wird ein siegreicher „Kanzler-“ oder „Spitzenkandidat“ nach der Wahl sagen können: „ICH bin die Partei“ (oder gar „der Staat“).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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