Warum Afghanistan leider kein Bosnien ist

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Im Januar 1996 war ich zum ersten Mal unterwegs nach Sarajevo. Es waren nur wenige Wochen seit dem Friedensabkommen von Dayton, Ohio, vergangen. Am Weg durch Kroatien konnte man die Spuren der jugoslawischen Bürgerkriege nur erahnen – es war Nacht, und nur das angespannte Verhalten der Grenzsoldaten vermittelte einem ein mulmiges Gefühl. Doch bereits der Sonnenaufgang irgendwo zwischen Dalmatien und der Herzegowina zeigte ganz deutlich, dass hier der heftigste europäischer Krieg seit über 50 Jahren vor kurzem stattfand.
Zudem haben wir mit jedem Kilometer mehr und mehr Panzerfahrzeuge, Jeeps und Laster der internationalen Friedenstruppen IFOR überholt, sowie immer mehr Checkpoints mit schwer bewaffneten Soldaten passiert. Ein ungewohntes und eigentlich hässliches Bild des Militärischen, für einen der bereits in mindestens dritter Generation die Familientradition der Kriegsdienstverweigerung praktizierte. Damals, mit eben jedem dieser bosnischen Kilometer bestätigte sich für mich, wie richtig das militärische Eingreifen 1995 zur Beendigung des Krieges war, und wie gut die Präsenz der internationalen Truppen für Bosnien-Herzegowina ist.

Umso trauriger und enttäuschender finde ich die derzeitige Lage in Afghanistan, und immer öfter stelle ich mir die Fragen: Warum ist es nicht annähernd gelungen, in Afghanistan ähnliches zu schaffen? War und ist es überhaupt zu schaffen?

Meiner Meinung nach wurden in Afghanistan, trotz aller offensichtlichen historischen, politischen, ethnischen und kriegsbedingten Unterschiede zu Bosnien, mehrere Fehler gemacht, wobei es auch einige durchaus positive Ansätze gab. Beides möchte ich hier aus meiner Sicht darstellen.

Beendigung des Bürgerkrieges:

Sowohl in Bosnien 1995, als auch in Afghanistan 2001 gab es eine durchaus positive Vorbedingung zur Beendigung des Krieges: Alle Kriegsparteien, und die Bevölkerung aller Ethnien waren mehr als kriegsmüde (falls sie jemals „kriegseuphorisch“ gewesen sein sollten).
In beiden Fällen gab es – nach langen Jahren des Zusehens – ein rasches militärisches Eingreifen, hervorgebracht in Bosnien durch die Massaker von Srebrenica und Žepa und die Granatenangriffe auf Sarajevo (alles im Sommer 1995), in Afghanistan durch die Anschläge vom 11. September 2001. In beiden Fällen waren es von UN-Resolutionen gedeckte NATO-Luftangriffe. In beiden Fällen waren es Anlässe zum Eingreifen, jedoch stark untermauert durch das langjährige menschliche Elend in beiden Ländern.

Doch hier beginnen bereits die Unterschiede. Während der Luftintervention in Bosnien, die lediglich zwei Wochen dauerten, wurden sehr präzise nur einige Artilleriestellungen und Kommunikationseinrichtungen der bosnischen Serben zerstört, mit sehr wenigen Todesopfern. Und mit dem Ziel, lediglich ein militärisches Gleichgewicht zu den anderen Kriegsparteien herzustellen. Als die erstarkten bosnischen Kroaten und Bosniaken mit ihrer Gegenoffensive – als Folge – sehr erfolgreich waren, wurden diese durch starken politischen Druck an weiteren Gewinnen harsch gestoppt.

Die Luftangriffe auf Afghanistan begannen ähnlich: die Taleban wurden geschwächt, die Nordallianz und Dostum wurden gestärkt. Allerdings verfolgte man hier das Ziel, die Taleban vollkommen zu zerstören – und der (nicht mehr nur Luft-)Krieg dauert bis heute an, mit unzähligen zivilen „Kollateralopfern“.

Waffenstillstand und Friedensabkommen:

Aus o.g. Gründen war es überhaupt erst möglich, in Bosnien zuerst einen Waffenstillstand zu erreichen und anschließend an einem Friedensabkommen zu arbeiten: keine Partei war „der Sieger“ oder „der Besiegte“ (oder: jede konnte behaupten, als „Sieger“ dazustehen), und alle wurden an den Verhandlungstisch eingeladen (auch wenn die bosnischen Kroaten durch Kroatien, die bosnischen Serben durch Serbien repräsentiert wurden).

Dagegen konnte man in Afghanistan keinen effektiven Waffenstillstand erreichen – kein Wunder, wenn man versuchte, die größte Gruppierung, die Taleban, militärisch und politisch auszutilgen. Dadurch verlor man von vornherein den wichtigsten Verhandlungspartner (auch wenn dieser noch so „schrecklich“ wäre), und führt mit diesem bis heute einen erfolglosen Krieg – mit dem Ergebnis, dass die Taleban wieder erstarkt sind.

In Bosnien wurden nach den oben erwähnten Luftangriffen, und der anschließenden kurzen bosnisch-kroatischen Offensive ab Oktober 1995 keine Kriegshandlungen mehr geführt. Die Waffen haben endlich geschwiegen, allerseits. Es folgten sehr zügig mehrere Waffenstillstandsabkommen - und Ende November 1995 das Friedensabkommen von Dayton.

Diese Friedensverhandlungen wurden zwar auf einer kargen US-Militärbasis im kalten Ohio geführt (unter Leitung von Richard Holbrooke, der in Härte, List, Ausdauer und Whisky-Konsum seinen balkanischen Kollegen in Nichts nachstand), doch schon zu diesem Zeitpunkt war das ganze „Paket“ eine multilaterale, internationale Angelegenheit, indem Russland, Frankreich und Großbritannien sie mitgestalteten.

Afghanistan? Da wurde nicht wirklich verhandelt, und wenn – dann erst auf der Geberkonferenz in Bonn, wo es nicht mehr um Macht, sondern lediglich um Geld ging. Keine souveräne afghanische Regierung oder Partei hat im Voraus einer internationalen Truppenpräsenz zugestimmt.

Internationale Truppen und Friedensmissionen:

Wieder zu Bosnien: Als Ergebnis von Dayton füllten ab Dezember 1995 internationale Truppen im Rahmen der IFOR-Mission (Intervention Force) das Land, die aus 16 NATO- und 17 Nicht-NATO-Ländern entsandt wurden. Kurz gesagt: Eine Mission, ohne das Übergewicht eines einzelnen Staates, ausgestattet mit UNO-Mandat. Und zwar einem, das zwar die Truppe deutlich als „Eingreiftruppe“ bezeichnete, die aber – da die Kriegshandlungen aufgehört hatten – von Anfang an, zum Glück, nur als „stabilisierende Abschreckung“, als „Bodyguard“ diente.

In Afghanistan hat man den Fehler gemacht, zwei nicht nur getrennte, sondern sogar einander kontraproduktive Missionen zu starten. Während in einigen Landesteilen eine schwache ISAF anfangs eher als „Sicherheitsausbilder“ und „Baumeister“ auftrat, führen in Afghanistan USA und Großbritannien im Rahmen ihrer „Operation Enduring Freedom“ eigenhändig einen „Krieg gegen den Terror“. Kann man daher von jedem Afghanen erwarten, dass er beide Missionen klar unterscheidet, von Akzeptanz ganz zu schweigen?

Eine weitere Fehleinschätzung ist die Truppenstärke.
In Bosnien stationierte die IFOR 57.000 Soldaten. In Afghanistan sind es derzeit in beiden Missionen ca. 80.000.
Zum Vergleich: Bosnien hat die Fläche von 51.129 km², Afghanistan 652.225 km². Bosniens Bevölkerung: 4,5 Millionen, Afghanistans: 25 Millionen.
Was bedeuten würde, dass selbst beim Vorhandensein aller positiven bosnischen Bedingungen eine Truppenstärke von mindestens 250.000 – 300.000 Soldaten in Afghanistan notwendig wäre.

Oder – hier kehre ich zurück zu meinen Bosnien der Jahre 1996-2000 – man müsste in Afghanistan dafür Sorge tragen, dass jede wichtige Straßenkreuzung, jede Brücke, und jedes wichtige Verwaltungsgebäude einer Kleinstadt von mindestens einem gepanzerten Fahrzeug bewacht wird.

Ist aber ein Frieden für Afghanistan noch möglich? Wie? Sicher nicht alleine durch Truppenaufstockung. Und wenn, dann unter dem Motto: Mehr Truppen, weniger Krieg. Aber dazu braucht man zuerst einen Waffenstillstand – vor allem mit den Taleban. Auch wenn sich deren Führer Mullah Omar auf einem Mofa auf- und davon gemacht hat – wenn man will, findet man Verhandlungspartner. Hoffentlich auch auf der anderen, der amerikanischen Kriegsseite. Dann wäre es an der Zeit, neu über Afghanistan zu verhandeln, und erst dann – im Rahmen einer neuen Militärmission – mit der Aufbauhilfe voranzuschreiten. Denn humanitäre Hilfe war auch schon unter den Taleban möglich.
Pragmatisch würde ich Deutschland wie Polen raten, die Truppenstationierung in Afghanistan zu verlängern – auf 1-2 Jahre, vernknüpft mit der strikten Bedingung, dass es einen Rückzug ohne „wenn und aber“ geben wird, wenn bis dahin keine neue politische Lösung und keine neue Mission feststehen. Es ist allerdings nicht hinzunehmen, dass man derzeit in Deutschland die Diskussion ideologisch führt: auf der einer Seite das fundamentale Ablehnen deutscher Beteiligung an ausländischen militärischen Missionen, auf der anderen das Beschwören einer „Bündnistreue“. Ganz zu schweigen von schwachsinnigen Argumenten wie „Deutschland wird am Hindukusch verteidigt“ - kein noch so sinnloses Für-Argument kann zu einem plausiblen Gegen-Argument werden.

Dass eine internationale Truppenpräsenz dennoch notwendig ist, sagt mir meine bosnische Erfahrung. Als „Freiwilliger“ bei einigen Projekten in Bosnien war ich nur einer von zahlreichen bosnischen und internationalen Kollegen, die durch und durch Abscheu vor allem Militärischen hatten. Viele von uns waren Linke, Anarchisten, Friedensaktivisten, Punks, Hippies, fast alle Kriegsdienstverweigerer, wobei die Zeit und Arbeit in Bosnien für die meisten keinesfalls ein „Ersatzdienst“ war.
Doch alle – vor allem die Bosnier selbst -. haben bereits nach wenigen Wochen die Nähe der französischen IFOR-Patroullien oder die Handynummer eines spanischen Sergeants (auch wenn es nur die seines Übersetzers war...) zu schätzen gewußt. Ganz zu schweigen von den ukrainischen Pontonbrückenbauern und den deutschen Lazarett-Ärzten.

Genau, die Deutschen... Die deutschen Soldaten am Balkan, die Deutschen im Krieg...
Kurz nach jener ersten Ankunft in Sarajevo 1996 sprach ich bei einem bosnischen Kaffee mit einer deutschen Journalistin, der die Anwesenheit deutscher Truppen am Balkan sichtbar Magenschmerzen bereitete. Als ich mich wunderte, sagte sie:
„Aber Sie, als Pole, Sie müssten es doch verstehen!“
„Ich, als Pole, freue mich, dass es hier eine internationale Intervention gibt, und dass die deutsche Armee eben eine solche ist, die hier mitmachen kann und will.“
„Na ja, das verstehen Sie vielleicht doch nicht, wissen Sie, das sind so unsere deutschen Debatten...“

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Lukasz Szopa

Balkanpole. Textverarbeiter. Denker-in-progress. Ökokonservativer Anarchist.

Lukasz Szopa

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