19 Jahre Einheit – es reicht

Glosse In einer Gesellschaft mit mindestens zwei historischen Ereignissen pro Woche hat es der Tag der Einheit gar nicht so leicht. Beglückend ist er sowieso nicht

Gerade macht wieder Thüringen, neben Sachsen die Hochburg des ostdeutschen Radikalopportunismus, von sich reden. SPD-Matchie verhökert seine Wähler an die Post-Althaus-CDU. Aber was soll man darüber noch wütend sein. Die Wut ist einem nach 19 Jahren Einheit gründlicher abhanden gekommen als Schlager-Süßtafeln, Putzi-Zahnpasta, Täve Schur und die Aktuelle Kamera. Sie ist wahrscheinlich versunken im Diskursbrei oder wurde weggeblasen, als wir uns wieder ein Stück durch den Windstromkanal quälten, der unsere Entwicklung zum Neuen Menschen testet: wie eloquent und nichtssagend sind wir schon? Und wo müssen wir noch ein paar Lektionen in Unterwerfung pauken? In unserem schönen, bunten Gemeinwesen sind 19 Jahre nach der Einheit Wut und Entschiedenheit so eklig wie ein Kakerlaken-Haufen im RTL-Dschungel. Pfui Kacka! Wir wollen Wackelpudding und Coffee-to-Go, uns totkichern und zujohlen. Oder „Wahnsinn, Wahnsinn!“ brüllen, weil Geiz geil ist.

Wir wollen in Ruhe über den Biomarkt schlendern, mit unseren Kindern alles ausdiskutieren und nach uns die Sintflut. Spaß muss sein. Wir wissen auch politisch irgendwas. Gunther Emmerlich und Vera Lengsfeld (Bundesbeauftragte für Vergeltung und Opferrituale), die Geschwister Scholl der ostdeutschen Widerstandsbewegung, haben zum Beispiel damals den Kriegsverbrecher Erich Honecker gestürzt. Und zwar ganz allein. Daran glauben Claudia Roth, Gänsehautblümchen der Grünen, Thomas Roth von der ARD und sogar unser aller Kanzlerin, die Frau ohne Vergangenheit. Also glauben wir alle mit.

Weil wir uns das alles gefallen lassen, bekommen wir Ossis zwar keinen Vaterländischen Verdienstorden, aber vielleicht von der Geschichte heimgezahlt, was wir wegen unserer Kapitulation vor der Diskurs-Seuche, vor Furchtzwergen und Westerwelle verdient haben: billige Mieten, billige Tarife, billigen Fusel. Und die Wessis können uns an Weihnachten oder unter der Woche wieder billigen Gewissens Creme-Seife, Kaloderma in der supergroßen Vorratsdose und Mon Cheri mit der garantiert echten Piemont-Kirsche schicken. Das sorgt im Osten auch zu Ostern noch für orkanartige Beifallsstürme.

Dann gibt es auch endlich wieder zwei Olympia-Mannschaften, zwei Hymnen und zwei Fahnen. Dagegen kann kein echter Patriot etwas haben. Galt nicht: Je geteilter, desto schneller, höher, weiter? Einheit macht träge, Teilung macht tollkühn. Und Doping bliebe wieder auf den Osten beschränkt und unter der Decke. Wo ja auch der Sex viel besser gewesen sein soll. Vielleicht hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Dazu äußert sich bestimmt bald Frau Ines Geipel. Wenn die Einheit nicht gekommen wäre, hätte Dieter Baumann mit frisch geputzten Zähnen (warum nicht mit Putzi?) in Peking bestimmt noch mal starten können. Und unsere Claudi Pechvogel? Niemals hätte die im Osten schlapp machen müssen. Wie die Kandidaten der Nationalen Front früher im Wahlkampf hätte sie einen tollen Schlussspurt hingelegt, denn: „Das Erreichte ist noch nicht das Erreichbare!“

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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