Zeitgeschichte In seinem Erinnerungsroman „Erziehung vor Verdun“ beschreibt Arnold Zweig eine Generation, die vom Ersten Weltkrieg zerstört wurde, auch wenn sie den Granaten entkam
An der Verdun-Front verging bis 1918 kein Tag ohne Gefecht
Foto: Hulton Archive/ AFP/ Getty Images
Würde er als Soldat auf das Straßburger Münster schießen? Würde er handeln wie die deutsche Armee, als sie im September 1914 die Kathedrale von Reims zerstörte, wird der Schriftsteller und Referendar Werner Bertin während eines Nachmittags mit Berliner Bekannten im Juni 1915 gefragt.
„Wenn das Unglück es so fügte“, müsste er „blutenden Herzens“ tun, was der Krieg verlange, und würde feuern, gibt der Gefragte zurück. Derartiges sei eben das, was man „ein tragisches Ereignis“ nennen müsse, „würdig, zum Gegenstand eines hohen Trauerspiels erhoben zu werden“. Ein Gast der Runde – er kommt aus Amsterdam – fühlt sich bestätigt: Deutschland ist in hoffnungslos
ffnungsloser Lage, wenn seine großen und kleinen Geister so daherreden. Bertin hat noch keinen Tag im Schützengraben gelegen, keine Granate detonieren hören, kein entseeltes Gesicht gesehen, da lässt er schon die apokalyptischen Reiter durch die Lüfte segeln, als sei ihm das unwiderruflich in die Seele gebrannt.In seiner zwischen 1927 und 1935 geschriebenen Trilogie Der Große Krieg der Weißen Männer erzählt der Romancier Arnold Zweig (1887 - 1968) von jenem Gespräch über Reims, den Fluch des Krieges und die Mythen der Krieger im ersten Buch Junge Frau von 1914. Gerade ist Werner Bertin trotz eines Herzfehlers und schlechter Augen einberufen worden. Nicht fronttauglich, aber k.v. – kriegsverwendungsfähig als Armierer und Schipper. Mitte 1915 lassen sich die Soldaten des Kaisers schon nicht mehr so schnell ersetzen, wie sie fallen. Bald wird Bertin Granaten schleppen, mit der Benzolbahn „nach vorn“ fahren und Kommissbrot aus Kleie kauen. Um sich herum den Pfefferrücken und die Festung Douaumont, den Fosses-Wald und das versunkene Dorf Fleury. Er ist in die Knochenmühle von Verdun geraten, wo der Mensch in Monaten nur wenig von dem übrig lässt, was die Natur in Erdzeitaltern wachsen ließ.Anfang 1916 hat die deutsche Armee in Lothringen ihre Operation Gericht begonnen, die erste große Materialschlacht der Geschichte. Die Erde wird zur blutgetränkten Scheibe, über der sich ein unerbittlich blauer Himmel wölbt, „wie eine Mausefalle, damit die Menschheit den Plagen nicht entrinnt, die ihre tierische Natur über sie verhängt“, eröffnet Arnold Zweig den Roman Erziehung vor Verdun“, das zweite Buch seiner Trilogie.Gräuel in BelgienNirgendwo darf sich die Hyäne des Krieges heimischer fühlen als auf den Schlachtfeldern an der Maas. Hunderttausende junger Soldaten lassen ihr Leben in Schlamm und Dreck, zwischen Ratten und Leichenteilen, werden verrückt oder verstümmelt oder beides. Die Kriegsfurie lacht sich tot, ohne daran zu ersticken. Sie kann sich so manches anrechnen lassen, seit die ersten Schüsse fielen. Auch die Gräuel in Ländern wie Belgien und Luxemburg, durch die sich das deutsche Heer auf dem Marsch nach Frankreich wälzte.Am 19. August 1914 werden 15.000 Mann in der Stadt Löwen einquartiert, die meisten jung, nervös und alkoholisiert. In der Abenddämmerung fallen Schüsse, vermutlich abgegeben von den eigenen Soldaten. Was nun geschieht, taugt beim besten Willen nicht zum „hohen Trauerspiel“, wie es Bertin vor Augen stand, als er das Straßburger Münster beschießen wollte. Es ist auch kein „tragisches Ereignis“, sondern die pure Barbarei. Noch in der Nacht dringen Deutsche in die Bibliothek der 1425 gegründeten Universität Löwen ein und legen Feuer. Die Magazine mit mehr als 300.000 Bücher verlieren sich in einem klumpigen Ascheregen. Zivilisten werden zusammengetrieben, einige auf der Stelle erschossen, andere am nächsten Tag. Insgesamt sterben innerhalb weniger Stunden 248 Männer, Frauen und Kinder. Kein Einzelfall, ganze Dörfer gehen auf diese Weise unter.Wohl auch wegen solcher Geschehnisse lässt Arnold Zweig im Verdun-Roman den Kriegsgerichtsrat Carl Georg Mertens auftreten, der im Hinterland Dienst tut. Mitte 1916 erreicht ihn eine Klage gegen den Gefreiten Himmke aus der Feldbäckerei Montmédy. Der hat sich volltrunken gebrüstet, nicht untätig gewesen zu sein, als in den Tagen der Marneschlacht der belgische Ort Someilles ausgelöscht wurde. Über ein Haus redet er besonders viel. Aus dem Keller sei keiner herausgekommen, als alles ausbrannte. Die Großmutter nicht und die vier Enkel nicht. Denen konnte kein Gott mehr helfen. Aber nicht die abscheuliche Tat macht Himmke zum Fall für die Militärjustiz, „sondern dass der Schweinskerl davon redet – dafür verdient er eigentlich eine exemplarische Abreibung“, wird Mertens aus dem Etappenkommando bedeutet. Den Schwätzer bestrafen, nicht den Verbrecher.Das Grauen lässt sich ertragen, solange man einfach wegschaut, aber es tötet, wenn man darüber nachdenkt. Und Mertens wird es töten. Ihn bestürzt, wie dieser Krieg der „tierischen Natur“ des Menschen alles entlockt, was die zu geben vermag, damit „sich die Scheußlichkeit der Eroberungslust dahinter verberge und austobe“. Ein völlig desillusionierter Jurist will dem täglichen Abkratzen jeglicher Kultur nur noch entkommen. Und sei es, indem er eine allerletzte Tür aufstößt, hinter der unergründbare Tiefe lockt. Es ist der Silvesterabend 1916. Noch einmal setzt sich Mertens ans Klavier, spielt Brahms, lässt die Hände ruhen, sinkt in den Sessel vor dem flackernden Kanonenofen, trinkt einen süßen Likör und schmeckt das Schlafmittel nicht im Geringsten. „Konnte jemand seliger aufgehoben einschlafen?“ In einer Stunde wird das Jahr 1917 beginnen, das vierte Kriegsjahr. Professor Mertens hat es abgesagt.Der Fall KroysingDieser Abschied nimmt dem Kriegsgerichtsrat auch den Fall des Unteroffiziers Christoph Kroysing aus der Hand. Der hatte eine Beschwerde an die Militärbehörde gerichtet, weil sich Etappenhengste seines Pionierbataillons ungeniert an der Mannschaftskost bedienten. Doch wurde der Brief von der Zensur abgefangen und der Verfasser an eine der gefährlichsten Stellen vor Verdun versetzt.Kroysing schmort in den Kellern der Chambrettes Ferme, bis ihn – wie von den Vorgesetzten erhofft – ein Granatsplitter zerreißt und zum Schweigen bringt. Kurz zuvor ist er noch auf einen arg heruntergekommenen, aber vertrauenswürdigen Schipper gestoßen, der ihm zu helfen verspricht: Werner Bertin will Gerechtigkeit. Er will sie umso mehr, nachdem Kroysing tot ist. Doch davon hat der Krieg so gar nichts zu bieten. Es sei denn, man lässt seine Grausamkeiten für sich arbeiten wie der Pionierleutnant Eberhard Kroysing. Der sorgt dafür, dass die Einheit seines toten Bruders samt den gut genährten Feldwebeln und Hauptmännern in die unter französischem Dauerbeschuss liegende Festung Douaumont verlegt wird – auf dass unter bebendem Bunkerbeton die Schuldigen in Todesangst ein Geständnis ablegen, kalkuliert der Leutnant. Am Fort gibt es nun kein Stacheldrahtziehen, kein Munitionholen, kein Essenfassen ohne wenigstens einen toten Pionier. Nur sterben die Falschen – allesamt haben sie nichts mit dem Schicksal des Christoph Kroysing zu tun.Bertin ist entsetzt, dass die Welt noch mehr aus den Fugen gerät, wenn man sie einzurenken versucht. „Blutenden Herzens“ muss er erleben, was ihm der Krieg abverlangt. Weniger als die Beschießung des Straßburger Münsters und doch so viel mehr, als einst in Berlin angenommen. „Wo steckt der Fehler, er muss doch gefunden werden, wenn unser ganzes Weltbild nicht in die Brüche gehen soll“, beschwört er den Leutnant Kroysing, der ihm ungerührt Schnaps nachgießt und ihn einen „Parzival in Schipper-Stiefeln“ nennt. Recht hat er. Warum soll es denn nicht in die Brüche gehen, das kostbare Weltbild? Auf Verdun lastet eine heilige Pflicht, davon nichts, aber auch gar nichts übrig zu lassen. In der drei Jahre dauernden Schlacht detoniert statistisch gesehen auf jedem Quadratzentimeter eine Granate, fallen mehr als 750.000 Soldaten. Hätte man sie über die Pariser Champs-Élysées paradieren lassen wie die Gardeformationen bei Frankreichs Siegesparade Ende 1918, wäre das Defilee der Toten erst nach fünf Tagen und Nächten vorbei gewesen.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.