1918: Die Falltür

Zeitgeschichte In „Karl und Anna“ schildert Leonhard Frank eine Heimkehr aus dem Krieg, die zur Katastrophe wird. Ein Gleichnis über verwirrte Gefühle und tragische Illusionen
Ausgabe 48/2014

Am 4. März 1916, aus einem Unterstand vor Verdun, schreibt der Maler Franz Marc an seine Frau: „Ja, dieses Jahr werde ich zurückkommen in mein unversehrtes Liebesheim zu dir und zu meiner Arbeit. Zwischen den grenzenlosen, schaudervollen Bildern der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehr-Gedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblicher zu beschreiben ist.“

Auch der Kriegsgefangene Richard träumt vom unversehrten Liebesheim, seit vier Jahren und so lange schon vergeblich. Es hat ihn weit in den Osten Russlands verschlagen, zusammen mit dem Frontkameraden Karl, der ein begieriger Zuhörer ist, wenn Richard von zu Hause erzählt, von der Wohnküche, dem Alltag mit seiner Frau Anna, ihrem Leib und Schoß. Es sind Traum- und Trugbilder, mit denen Leonhard Franks Novelle Karl und Anna beginnt. Die Geschichte spielt gegen Ende des Weltkrieges, der für Richard und Karl fast vorbei, aber mitnichten überstanden ist. Beide fantasieren sich heimwärts und tappen durch eine von Erinnerungen getränkte Traumlandschaft, in der es ein Leichtes scheint, irgendwann den verlorenen Faden des Daseins wieder aufzunehmen.

Was der Autor davon erzählt, gilt im Jahr 1926, als das Werk erscheint, einer Nachkriegsgesellschaft, die weiß, wovon die Rede ist. Gut fünf Millionen demobilisierter Soldaten haben nach 1918 ohne den Lorbeerkranz des Siegers eine Heimkehr ins Ungewisse und oft Unerwartete durchstehen müssen. Wer von den Schlachtfeldern körperlich unbeschadet zurückkehrte, war doch nur selten unversehrt geblieben. In jungen Jahren eingezogen, hatte man gelernt, auf das Leben zu schießen, statt es zu lieben. Was sollte davon je verwindbar sein? Leonhard Frank gibt mit seiner Novelle eine Antwort, die privater und intimer kaum sein kann, weil sie allein dem Herzschlag des Lebens und dessen Rätseln vertraut.

Wie die Gehilfen des Sisyphos schachten sich Richard und Karl durch die sibirische Steppe. Aus dem Graben soll ein Kanal werden, hat man ihnen gesagt. Ringsherum lagert die Weite des Nichts, sodass man sich Bewacher sparen kann. Die Schlachten des Weltkrieges dröhnen Tausende von Kilometern entfernt, hier klebt höchstens ein zerquetschter Wurm am Spaten.

„Wie das nur kommt, dass ihre Brust so weiß ist und die Hüften und der Leib viel dunkler“, wundert sich Richard über seine Frau Anna. Und beide krümmen sich vor Lust und Verlangen im Dreck. Als ob Anna zum Ergreifen nah wäre. Wer soll das aushalten, so viele Nächte? Richard sieht, wie Karl leidet. In Gottes Namen, er würde ihm Anna einmal überlassen, nur einmal. „Und beim zweiten Mal würd ich dir mit der Hacke den Schädel einschlagen.“ Dafür ist es zu spät. Karl hat sich längst in das Sehnsuchtsbild von Anna verliebt. Schließlich hat ihm Richard kein Detail aus der häuslichen Wohnküche erspart. Wie Anna morgens aufwacht und der Gaskocher pfeift. Dass man diese merkwürdige Gabel besitzt mit den drei Zinken. Dass Anna drei Muttermale hat auf dem Rücken, „braun wie Samt“. Karl fährt das so kräftig ins Blut, dass ihn der Drang zur Heimkehr wie eine Sucht übermannt. Davon erlösen kann er sich nur in jener Wohnküche.

Die sich anbahnende Dreiecksgeschichte nimmt ihren Lauf, als Richard plötzlich mit einem Arbeitskommando einige Tagesreisen weiter in Russlands Osten deportiert wird, Karl aber flüchtet und viele Tagesmärsche nach Westen auf sich nimmt, bis er sein Ziel findet, Anna unter die Augen treten und sich als ihr Mann ausgeben – nein, ausweisen – kann. Er weiß ja, was ihn erwartet: die Gabel mit den drei Zinken, der pfeifende Gashahn, den er noch richten wollte damals vor dem Einrücken. Anna kann sich nicht erklären, wer da vor ihr steht und ihr Leben aufblättert, als würde er aus einem Buch vorlesen. Schon am 4. September 1914 hat sie die Nachricht erhalten, dass Richard in treuer Pflichterfüllung fürs Vaterland gefallen ist. „Ich war die Erste im Viertel, die den Brief bekam“, weist sie Karl zurück. Sie hat keinen Mann mehr. Es schmerzt bis heute, wie sie ihn entbehrt und nur noch so in den Tag hinein weiterlebt. Soll sie den Fremden fortschicken? Oder aufnehmen? Warum leichtfertig verspielen, welches Glück ihr winkt? Leonhard Frank schildert eine aufbrechende Liebe, die ihr Recht in sich selbst hat. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Karl und Richard für Anna erst zu einer Person und dann zu der Person werden, die sie als ihren Mann haben will. „Schon wie sie … beide, Blick in Blick, das unerforschliche Geheimnis ihrer Liebe fühlten, die dem Rechte Richards gegenüberstand, waren sie wieder zu sich zurückgekehrt, frei von dem Wunsche nach Richards Tod und bereit zu bezahlen, wenn bezahlt werden musste.“

Knochenmühle im Schützengraben

Und es muss bezahlt werden, da ein Brief, der Monate unterwegs war, Richards baldige Ankunft meldet. Als der Heimkehrer wieder in seiner Wohnküche steht, hat sich scheinbar nichts verändert, nur etwas ist anders. Das brennende Gas am Herd pfeift nicht mehr. Die Gabel mit den drei Zinken aber liegt auf dem Tisch, der für zwei gedeckt ist. Hast mich also doch erwartet, alte Anna? War deine Sehnsucht so groß wie meine?

Im Güterzug nach Hause lag ein junger Soldat nächtelang neben Richard, in schmutzigen Händen die Streichholzschachtel mit den Augen seiner Mutter, wie er glaubte. Hat sie sich aus dem Kopf geweint, weil der Junge so lange draußen blieb. Richard stößt der stammelnde, zerbrochene Mund ab. Ihn hat der Krieg nicht als Irrsinnigen laufen lassen. Ihn doch nicht! Wozu hat man das alles überlebt? Man tat es, bis der Vorhang vor dem eigenen Irrsinn fällt und die eigene Lebenslüge offenbart. „Ich bin jetzt mit ihm. Es ist so gekommen“, sagt Anna, als Karl in der Wohnküche auftaucht. „Karl ist mein Mann.“ Anna ist nicht unsicher, nur voller Angst. „Wer bin denn dann ich?“, schreit Richard. Wie ihm geschieht, ist nur mit dem vergleichbar, was ein Mensch erlebt, unter dem sich unerwartet eine Falltür öffnet und ihn in die Tiefe reißt, so wild er auch mit den Armen rudert.

„Es ist so gekommen.“ Leonhard Franks Novelle ist ein Gleichnis für die Verwirrung der Gefühle, verursacht durch die Flucht vor seelischer Not, wie sie im Krieg unerträglich werden konnte. Der Knochenmühle im Schützengraben, Hunger und Seuchen, dem Lemurendasein in der Steppe – allem ist Richard entkommen. Und nichts bewahrt ihn davor, der Verstoßene zu sein, der in seinem Wesen verwundete Mensch. Wie sich herausstellt, waren die Träume von Anna nur ein Herumirren in den Trümmern eines verschütteten Lebens. Der Heimweg als Leidensweg.

Was Richard nach Hause trug, war der Rausch einer Illusion: Kein Strandgut des Krieges, sondern davongekommen zu sein. „Wären wir 1916 heimgekehrt – wir hätten aus dem Schmerz und der Stärke unserer Erlebnisse einen Sturm entfesselt. Wenn wir jetzt zurückkehren, sind wir müde, zerfallen, ausgebrannt, wurzellos und ohne Hoffnung, wir werden uns nicht mehr zurechtfinden können“, heißt es in Leonhard Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut, die während des Krieges in der Schweiz erscheint und in Deutschland verboten ist.

„Es ist so gekommen.“ Als Anna und Karl die Wohnung verlassen, um ihrer Wege zu gehen, bleibt Richard fassungslos zurück, zwei leere Teller auf dem Tisch, die Gabel mit den drei Zinken daneben. Strandgut des Krieges eben doch, dorthin gespült, wo er ein Zuhause glaubte und nicht mehr fand. Das Trauma der menschlichen Zerstörung wird in Franks Erzählung zum Zeichen für eine Entfremdung, die kein Entrinnen erlaubt. „Diese Figuren treiben Schicksal wie ein Baum Blätter und Blüten“, schreibt der österreichische Schriftsteller Alfred Polgar über die ungewöhnliche Dreiecksgeschichte – über die Heimkehr der Heimatlosen.

„In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille“, hatte Franz Marc am 4. März 1916 im Brief an seine Frau noch geschrieben. Es sollte sein letzter Gruß von der Front sein. Er fiel am gleichen Tag.

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