1919: Die Weltpartei

Zeitgeschichte In Moskau formiert sich die III. Internationale als Gegnerin des sozialdemokratischen Revisionismus. Sie will der kommunistischen Bewegung Halt und Richtung geben
Ausgabe 09/2019
Die Revolution ist übrigens weiblich
Die Revolution ist übrigens weiblich

Foto: Apic/Getty Images

Lenin geriet ins Schwärmen, wenn er sich der KPD-Gründung zum Jahreswechsel 1918/19 in Berlin erinnerte. „Als der Spartakusbund den Namen ‚Kommunistische Partei Deutschlands‘ annahm, da war die Gründung einer wahrhaft proletarischen, wahrhaft internationalistischen, wahrhaft revolutionären III. Internationale … Tatsache geworden“, schrieb er im September 1921 für einen Zirkularbrief der Kommunistischen Internationale (Komintern/KI). Dabei hatten sich die deutschen Kommunisten, als die III. Internationale zwischen dem 2. und 6. März 1919 in Moskau aus der Taufe gehoben wurde, eher reserviert als wagemutig gezeigt. Ihr Gesandter Hugo Eberlein enthielt sich der Stimme, als über die „Richtlinien“ abgestimmt wurde. Darin hieß es: „Die revolutionäre Epoche fordert vom Proletariat die Anwendung solcher Kampfmittel, die seine ganze Energie konzentrieren, nämlich die Methode der Massenaktionen und ihr logisches Ende – den direkten Zusammenstoß mit der bürgerlichen Staatsmaschine in offenem Kampfe.“

Der Parteivorsitzende Paul Levi, um das Vermächtnis der ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht besorgt, hielt das für realitätsfernes Wunschdenken. Er befürchtete, in eine Offensivtaktik getrieben zu werden, die der Lage in Deutschland nicht angemessen war. Dort hatte der revolutionäre Aufbruch vom November 1918 auch deshalb an Schlagkraft verloren, weil eine teils faschistoide Restauration den offenen Bürgerkrieg nicht länger scheute. Allein in Berlin hatte es im März 1919, als Freikorpsverbände zum Sturm auf die Arbeiterreviere im Osten und Norden antraten, „rund zwölfhundert Tote“ gegeben, wie der zuständige Reichswehrminister Noske (SPD) einräumte. Danach sollten für die „Novemberrevolutionäre“ die Niederlagen kaum mehr abreißen, sei es im April 1919 in München, später in Sachsen, im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland, zuletzt beim Hamburger Aufstand 1923.

Ungeachtet dessen setzten die Bolschewiki auf keine Partei so große Hoffnungen wie die KPD. Sie sollte sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen, stattdessen die proletarische Revoluton anfachen und die Rätemacht durchsetzen. Nicht zu Unrecht war Lenin der Auffassung, der Sozialismus lasse sich nicht in einem Land allein, schon gar nicht in einem derart rückständigen und hilfsbedürftigen wie Sowjetrussland aufbauen. Doch werde man nur vorübergehend auf sich gestellt bleiben, schließlich sei die Oktoberrevolution der Prolog einer Weltrevolution gewesen, die unwiderruflich heraufziehe. Die Überzeugung eines Unbeirrbaren, dessen analytische Gabe bis dahin über jeden Zweifel erhaben war? Oder taktisch motivierter Zweckoptimismus?

Eine kommunistische Weltbewegung als revolutionäres Subjekt ließ sich 1919 bestenfalls in Ansätzen erkennen. Allein in Österreich, Finnland, den Niederlanden, in Argentinien, Ungarn, Deutschland und Polen hatten sich linke Gruppierungen zu revolutionären Parteien vereint, sodass zum Gründungskongress der KI lediglich 51 Delegierte aus 29 Ländern anreisten. Die französische KP entstand erst Ende 1920 auf einem Kongress in Tours, nachdem sie sich zuvor von der durch die Sozialdemokratie beherrschten II. Internationale losgesagt hatte. Die italienischen Kommunisten formierten sich im Januar 1921, indem sie als Block die Sozialistische Partei verließen, die spanischen Kommunisten folgten im November 1921.

Vom behäbigen Mahlstrom der Geschichte unbeeindruckt, setzen die Komintern-Gründer auf die Internationalität und Integrationskraft ihrer Allianz. Moskau galt zunächst als provisorischer, keineswegs für alle Zeit festgeschriebener Sitz des Exekutivkomitees (EKKI), des höchsten Komintern-Gremiums zwischen den Weltkongressen. Auch wurde während des ersten die Erwartung laut, dass der zweite KI-Kongress womöglich nach Berlin einberufen werde, um zu würdigen, was dort und anderswo in Europa der revolutionäre Umbruch bewirkt habe. Lenin hielt es zwar für unerlässlich, dass alle Parteien die Bolschewiki als Vorbild anerkannten, meinte aber in einem Aufsatz vom Mai 1919: „Zeitweilig – selbstverständlich nur für eine kurze Zeit – ist die Hegemonie in der revolutionären, proletarischen Internationale an die Russen übergegangen.“ An anderer Stelle des gleichen Textes heißt es dagegen apodiktisch, „dass die neue, die dritte ‚Internationale Arbeiterassoziation‘ schon jetzt in gewissem Maße mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken zusammenfällt“. Auf schicksalhafte Weise mit ihr verbunden und an sie gebunden? Was auch gemeint war – wenn sich die III. Internationale in eine Epoche des Übergangs von der Diktatur der Bourgeoisie zur Diktatur des Proletariats gestellt sah, stand außer Frage, dass sich dieser Staatstyp nur in Sowjetrussland zu etablieren begann. Zwangsläufig fiel den Bolschewiki der Part des Hegemons zu, wem sonst? Sollten sie scheitern, würden die gerade antretenden kommunistischen Parteien in Europa, Nordafrika und Asien (China) jeden Rückhalt verlieren.

Als Mitte Juli 1920 der II. Komintern-Kongress nicht in Berlin, sondern erneut in Moskau zusammentrat, schien das revolutionäre Feuer außerhalb Sowjetrusslands nicht gänzlich erloschen, nur glimmte es mehr, als dass seine Flammen eine überlebte Ordnung bedrohten. Dennoch gewann die Internationale an Zulauf (so bekannte sich etwa die USPD auf ihrem Leipziger Parteitag Ende 1919 zum „Fernziel“ eines KI-Beitritts), nur hatte man es mehr mit einem Dachverband kommunistischer Parteien als einer Avantgarde der Weltrevolution zu tun. Ohnehin waren die Bolschewiki in den frühen 20er Jahren mehr damit beschäftigt, die eigene Revolution zu verteidigen, als der ihnen auferlegten internationalistischen Mission gerecht zu werden.

Unter diesen Umständen blieb es dem II. Weltkongress nach den programmatischen Resolutionen des Auftakts 1919 vorbehalten, über das Innenleben der KI, das Organisationsprinzip wie statuarische Normen, zu entscheiden. Letztere hatten zu garantieren, was als identitätsstiftend und daher unverzichtbar galt. Man wollte der moralische wie ideologische Sieger über die II. Internationale sein, die vor dem Ersten Weltkrieg dem Revisionismus und mit dessen Ausbruch dem Sozialchauvinismus verfallen war. Die Parteien der KI sollten mit einem Selbstverständnis brechen, wie es die Vorkriegs-SPD in der Person ihres Theoretikers Karl Kautsky zum Markenkern erhoben hatte: Wir sind eine revolutionäre, aber keine die Revolution machende Partei.

Um sich davon abzugrenzen, wurden „21 Aufnahmebedingungen“ beschlossen, die für jede Mitgliedspartei galten. Sie reichten von einem „wirklich kommunistischen Charakter“ jedweder Agitation über die Pflicht, einen „parallelen illegalen Apparat“ zur bürgerlichen Rechtsordnung aufzubauen, sowie die politische Arbeit in den Gewerkschaften und Streitkräften bis zur Akzeptanz des demokratischen Zentralismus. Was aus heutiger Sicht einem fatalen Souveränitätsverzicht gleichkam, war die Auflage (Aufnahmebedingung 18), dass sich jede Partei neben ihrem offiziellen Namen als „Sektion der III. Kommunistischen Internationale“ zu bezeichnen hatte. Folglich wurde die Internationale zu einer Art Weltpartei, als deren Führungszentrum niemand sonst als die Wsessojusnaja Kommunistitscheskaja Partija (B), wie sie seinerzeit hieß, in Betracht kam.

Dies wurde endgültig zum Dogma, als 1924 – nach dem Tod Lenins – der V. Weltkongress die Parole von der „Bolschewisierung“ aller Komintern-Parteien ausgab und fortan die Treue zum Kommunismus an der Treue zur Sowjetunion gemessen wurde. Was das bedeutete, wenn Stalin nunmehr proklamierte, dass der Sozialismus sehr wohl in einem Land allein existieren und sich entfalten könne, lag auf der Hand: Die Sowjetunion würde immer häufiger ihre Interessen als Staat über das Geschick der kommunistischen Bewegung stellen und das eigene Parteimodell idealisieren. Die III. Internationale konnte (und wollte) dem nicht gewachsen sein.

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