Zementarbeiter – Spediteur – Zuhälter – Totschläger im Affekt – Zuchthäusler – Straßenhändler – Einbrecher – Hehler – Patient – Irrenhäusler – zu guter Letzt Hilfsportier. Das ist Franz Biberkopf, der urwüchsige Held in Alfred Döblins 1929 erschienenem Roman Berlin Alexanderplatz. Als ein Jahr später die Verfilmung ansteht, soll ein gestutzter, aber keineswegs verstümmelter Biberkopf antreten. Nur wie kann ein Film einem Buch gerecht werden, das nach Asphalt riecht und dem Verfasser von der Hure Babylon eingeflüstert worden ist, dem Moloch Berlin höchstselbst? Und was wird getan, damit die Geschichte nichts von ihrer Sentimentalität, ungestümen, tragikomischen Folgerichtigkeit, ihrem Pendeln zwischen Tugend und Laster in der Halb- und Unterwelt des Berliner Ostens verliert?
Die Antwort ist der Biberkopf-Darsteller. Als der Schauspieler Heinrich George bei Döblin vorstellig wird, kommt das einer Bewerbung gleich. Diese ungeschlachte Figur, diesen derben Klotz mit dem kindlichen Gemüt und kindischen Gebaren, diesen Menschen voller Demut und Dämlichkeit, der seine Welt mit dem Versprechen behelligt, für alle Zeit anständig zu sein, dieses fünfte Rad am Wagen eines parasitären, kriminellen Lebens – den sollte ich nicht, den muss ich spielen. Das wird kein Biberkopf, wie er gemeint sein könnte, das wird ein Biberkopf, wie er ist. Er werde diese Figur aus sich herausschleudern, verspricht George.
Im Unterschied zum literarischen Original muss sein Biberkopf mit den Stationen – entlassener Zuchthäusler – Straßenhändler mit Stand – Einbrecher wider Willen – Straßenhändler ohne Arm, aber mit Schnauze – auskommen. Das muss reichen. Und wie das reicht für George, der neben seiner inbrünstigen, das Dämonische streifenden Spielkunst noch eine weitere Empfehlung vorweisen kann: Es sind die Auftritte in den ersten Tonfilmen, die dem Kino Ende der 1920er Jahre das neue Zeitalter bescheren. Engagiert von Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) geht er 1930 vorübergehend in die USA, um die Hauptrolle in Menschen hinter Gittern zu übernehmen. In Hollywood kann sich George davon überzeugen, dass in den MGM-Studios die bis dahin üblichen Blockmikrofone verpönt sind, die über den szenischen Arrangements hängen und die Schauspieler zwingen, übertrieben laut zu sprechen. Stattdessen sind Tonaufnahmen innerhalb der Dekoration und auf Augenhöhe möglich. Man werde nicht anders verfahren, verspricht die Allianz Tonfilm GmbH, als im Mai 1931 die Dreharbeiten für Berlin Alexanderplatz beginnen. Das heißt, in Henschkes Wirtshaus, Biberkopfs möbliertem Zimmer, Clärchens Ballhaus oder den Hinterhöfen an der Großen Hamburger Straße werden Bild und Ton synchron aufgenommen. Wenn George in der Kneipe singt „Ich hatt’ einen Kameraden“, ist die Authentizität des Augenblicks heilig. So gut wie nichts soll verloren gehen, alles bleiben, wie es als Szene gelingt, wenn die Klappe fällt.
Als erster Tonfilm hat 1927 die Hollywood-Produktion The Jazz Singers in Europa reüssiert. Davon alarmiert, kauft die Ufa das 1922 zunächst in Berlin patentierte Klangfilmverfahren für viel Geld aus den USA zurück und lässt auf ihrem Gelände in Babelsberg vier Studios zu Tonateliers umbauen. Werden noch 1929 von 183 in Deutschland gedrehten Spielfilmen nur acht mit Ton produziert, offenbart das Jahr 1931 den finalen Umbruch, als unter 159 Streifen noch zwei auf Kinoerzähler oder -pianisten angewiesen sind. Das Publikum belagern zunächst biedere Filmoperetten wie Melodie des Herzens und Die Drei von der Tankstelle, dann jedoch sorgen künstlerisch ambitionierte Werke wie Der blaue Engel nach dem Roman Professor Unrat von Heinrich Mann und die Verkörperung des Schriftstellers Émile Zola durch Heinrich George im Filmepos Dreyfus für Aufsehen.
Anfangs kokettiert das neue Medium recht unverhohlen mit seiner Stummfilm-Vergangenheit, wenn die Kamera tief in die Gesichter kriecht, eine stark rhythmisierte Musik die Montage vorgibt oder nachahmt, die Darsteller in ihrer Mimik überzeichnen, als sei ihnen noch immer die Sprache genommen. Berlin Alexanderplatz ist davon weder frei noch übermäßig beeinträchtigt. Produzent Arnold Pressburger kann einen Regisseur gewinnen, der Biberkopfs Milieu kennt und auf der Leinwand bereits davon erzählt hat. Der seinerzeit 33-jährige Phil Jutzi hat 1929 Mutter Krausens Fahrt ins Glück gedreht, die beginnt, als der Gashahn ins Spiel kommt und Mutter Krausen tödlich beschwingt von dannen zieht. Eigentlich steht Jutzi bei der Prometheus Film, einer der KPD nahestehenden Gesellschaft, unter Vertrag, doch der fehlt es an Geld für die nächsten Projekte, von den ständigen Schikanen des Weimarer Staates, der sich gegen links so hingebungsvoll schützt, ganz zu schweigen.
Als Alfred Döblin zusammen mit dem Drehbuchautor Hans Wilhelm am Skript schreibt, muss auch er dem Zeitgeist zwei Jahre vor Hitler Tribut zollen und Federn lassen. Die Juden aus der Dragonerstraße im Scheunenviertel finden im Film so wenig statt wie die lieben, kessen Jungs vom Tiergarten-Strich, die sich gleich einhaken, wenn der Freier seinen Glatzkopf spazieren führt. Im Roman bitten die Juden Biberkopf zu sich herein, damit er ausruhen kann, als ihn am Tag der Entlassung aus der Haftanstalt Tegel die Freiheit schwindeln und stürzen und begreifen lässt, wieder draußen heißt wieder drinnen im Lebenskampf, den er so gern als unbescholtener Mann führen würde. Nur wie? Indem er sich auf die Straße schickt natürlich! Unter die S-Bahn-Brücke am Alexanderplatz oder die Kolonnaden an der Invalidenstraße, mit Schlüpfern, Strümpfen, Socken, Schürzen am Stand. Feine Ware, beste Ware wie der Schlipshalter für den kleinen Mann, der sich den Schlips nicht binden kann. Was soll man auf das große Geld schielen, wenn der Groschen reicht für Eisbein oder Pökelkamm? Und die Cilly, seine neue Freundin, füttert er auch noch durch.
Was den Film mit einer historisierenden Patina versieht, ist der Rückgriff auf dokumentarisches Material aus dem Berlin der frühen 1930er Jahre. Das erlaubt den Blick in die offenen Baugruben auf dem Alexanderplatz, unter dem die Gleise für die neue U-Bahn-Linie D (heute U8) Leinestraße – Gesundbrunnen verlegt werden. Die Gesichter sich ausruhender, erschöpfter, auf Bergen von Material schlafender Arbeiter tauchen auf, rennende Schupos, fahrende Straßenbahnen, fliegende Luftballons. Eine rhapsodische Reportage, an der schon Walther Ruttmann gelegen war, als er mit seinem Dokumentarfilm Berlin – Die Sinfonie der Großstadt (1927) einem Strom faszinierender Bilder freien Lauf ließ. Für Döblin entsprechen derartige Sequenzen einem Verständnis von Realismus, wie es seinem Roman zugrunde liegt. Ein Dichter sollte der Wirklichkeit verpflichtet sein, sagt er 1931 in einem Vortrag, er müsse „ganz nahe an die Realität heran, an ihre Sachlichkeit, ihr Blut, ihren Geruch“. Dennoch sollte das epische Kunstwerk auch immer ein Spiel mit der Realität sein, zeige es doch den souveränen Willen eines Autors, „dem Wissen und der Wissenschaft zum Trotz mit der Realität zu spielen“. Wie es das Buch mit dem Film und der mit seiner Vorlage hält, das beweist Hingabe an dieses Spiel.
Bei Döblin steht Biberkopf am Schluss nicht mehr auf dem Alexanderplatz, sondern als Pförtner an einem Werktor, lässt Leute ein und aus. Das Schicksal war ihm gnädig, gestraft hat es ihn genug, aber es wittert immer noch Morgenluft. Und die Hure Babylon erst recht, sie kotzt und rülpst und schreit. Sie ist immer hinter dir her, Franz Biberkopf. Wo du dich auch verkriechst, sie findet hin. Wird dem Film wegen dieses Ausblicks, auch wenn er nur angedeutet wird, ein anderes Ende zugedacht? Er zeigt einen Biberkopf, der auf dem Alexanderplatz Stehaufmännchen verkauft, die sich immer wieder aufrichten, nie umfallen und zu ihm passen, weil er der Glückssucher bleibt, der vom Leben mehr will als ein Butterbrot. Und mehr verdient hat.
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