Die schwarze Venus kann kreischen, die blaue ein Pferd reiten oder ein Kamel und sofort absteigen, wenn ein Freier winkt. Auch Eckkneipen haben Damenringkämpfe zu bieten, können sich freilich keine über Häuserfronten reichende Lichtreklame leisten wie Revuetheater und Tanzdielen, Ball- und Kaffeehäuser. Vom vergnügungswilligen Berlin der frühen 1930er Jahre geht viel, aber längst nicht alles verloren, als ab Januar 1933 ein arischer Kulturbetrieb einkehrt und hinauskehrt, was ihm verhasst, weil „verkommen“ und „verjudet“ ist. Vom germanischen Reinheitsgebot zunächst nicht betroffen sind Etablissements wie das „Moka Efti“ am Tiergarten, die „Wilde Bühne“ oder die „Katakombe“ im Epizentrum der Vergnügungskultur zwischen Nollendorfplatz und Tauentzien.
In manchem Saal werden gar noch Swingtitel wie It’s the Talk of the Town von Coleman Hawkins oder Dear Old Southland von Benny Goodman von großen Orchestern intoniert, dazu Kompositionen von Lionel Hampton und Duke Ellington. Natürlich darf nicht, aber kann danach getanzt werden, wenn es spät ist und immer später wird. Unbeschwert, eingängig, aufreizend salopp hinterlassen die flüssig schwingenden Rhythmen eine euphorisierende Wirkung. Der Alltag aus Winterhilfswerk und Wehrertüchtigung zerrinnt.
NS-amtlich ist der Swing verpönt, gilt als „Niggermusik“ aus Amerika und dreiste Zumutung für ein „deutsches“ Kulturempfinden. „Swing Kids“, wie sich die Jungenthusiasten der Szene in Hamburg, Frankfurt am Main oder Berlin nennen, werden verfolgt, von HJ-Streifen überfallen und misshandelt, zur Umerziehung gezwungen und, wenn das nicht hilft, ins Konzentrationslager deportiert. „Das Lokal wird geschlossen, verlassen Sie augenblicklich den Saal, stellen Sie sich in einer Reihe auf und hinterlassen Sie am Ausgang Ihre Namen.“ Mit Durchsagen wie dieser beginnen gewöhnlich die Razzien im Hamburger „Café Bismarck“. Wer sich dann nicht durch die Hintertür oder das Fenster einer Künstlergarderobe retten kann, muss den Spießrutenlauf durch die Gasse der HJ-Schläger links und rechts überstehen.
Und doch gibt es neben den gut getarnten Swing-Refugien die offiziell geduldeten Swing-Revuen. Eine davon geht im Berliner Admiralspalast am Bahnhof Friedrichstraße über die Bühne. Argwöhnisch beobachtet, darf im Spätherbst 1937 der 33-jährige Robert Dorsay jeden Abend über die Bretter segeln und singen: „Komm, tanz mit mir Swingtime, my Darling, beim Swingtime, da küsse ich dir und you kiss me ...“ Der Schauspieler, Kabarettist und Sänger empfiehlt sich als charmanter Entertainer und fegt vor entzücktem Publikum von einem Titel zum nächsten, tanzt „mit Fräulein Dolly Swing“, hüpft und springt „wie ein Schmetterling“. Weil alles einen deutschnationalen Anstrich haben muss, wird als „Revue-Operette“ drapiert, was sich Dorsay zusammen mit Co-Autor Walter Espe und Komponist Victor Corzilius an Arrangements ausgedacht hat. Und der Titel Heut’ bin ich verliebt fremdelt nicht allzu sehr – eigentlich gar nicht – mit Paul Linckes Frau Luna oder Ralph Benatzkys Im weißen Rößl, die im Dritten Reich als Elysium der Operettenseligkeit vergöttert werden.
Und dann gibt es da, unüberhörbar und ungestüm, die entfernten Wahlverwandten, um die man weiß, ohne sie kennen zu dürfen. Als Dorsay am Abend des 16. November 1937 auf seine Bühne schwebt, spielt Benny Goodman gerade einen vorzüglichen Bigband-Swing in einem New Yorker Tonstudio, um die Titel Big John’s Special und Smiles für sein Plattenlabel aufzunehmen. Die Ätherwellen singen es von Kontinent zu Kontinent, notfalls über den Atlantik hinweg, und die Stewards der Hamburg-Amerika-Linie tun es auch – sie haben die verbotenen Platten im Gepäck.
Robert Dorsay, eigentlich heißt er Robert Stampa, hat eine Karriere auf Brettl-Bühnen, an renommierten Häusern in München und am Intimen Theater in Nürnberg hinter sich. Die Ufa engagiert ihn für Liebesbriefe aus dem Engadin des Heimatfilmers Luis Trenker wie für den Streifen Tanz auf dem Vulkan, den Ufa-Vorzeigenazi Hans Steinhoff mit Filmgrößen wie Görings Günstling Gustaf Gründgens, Sybille Schmitz und Theo Lingen in den Hauptrollen inszeniert. Im August 1932 war Dorsay in die NSDAP eingetreten, gut ein Jahr später wegen ausstehender Beiträge wieder ausgeschlossen worden. Als er 1937/38 die Gnade von Propagandaminister Goebbels als Swing-Idol auskosten darf und neben dem Admiralspalast im „Kabarett der Komiker“ reüssiert, sind Gegenleistungen gefragt – eine makellose völkische Gesinnung, das Bekenntnis zum Regime. Hans Hinkel, Beauftragter für „Kulturpersonalien“ im Propagandaministerium, fordert Dorsay auf, sich wieder in die NSDAP einzureihen. Der winkt ab und muss nicht lange auf die Konsequenzen warten.
Ab Ende 1939 gibt es keine Theater- und Revue-Engagements mehr, allein ein bisschen Tingeltangel am Fronttheater oder bei KdF-Tourneen durch das besetzte Belgien und Frankreich ist noch möglich. Am Deutschen Theater in Berlin kann Dorsay nur noch privatim in der Kantine gastieren. Inzwischen zur Wehrmacht eingezogen und auf Urlaub in der Reichshauptstadt, erzählt er dort Anfang 1943 vor guten Bekannten, wie er glaubt, Witze wie diesen: „Als der Führer jüngst eine große deutsche Stadt besucht hat, hält ihm ein Mädchen zur Begrüßung eine Handvoll Gras hin. Hitler fragt: ‚Was soll ich damit?‘ Das Mädchen antwortet: ‚Alle sagen, wenn der Führer ins Gras beißt, kommen bessere Zeiten.‘“
Von einem Zuhörer denunziert, wird Dorsay zum Fall für die Gestapo, die umgehend seine Post kontrolliert und Ende März 1943 schwer fündig wird. Dorsay schreibt aus seiner Garnison im ostpreußischen Osterode an den befreundeten Eddy Haase in Berlin: „Nun sind schon 14 Tage vergangen, wo ich diese Scheiße wieder mitmachen muss. (…) Hier wimmelt es jetzt nur so von neuen Rekruten. Neue schon – aber alte –. Ich sehe sie schon im Kampf mit unseren Feinden, Gott werden die lachen. Wann ist endlich Schluss mit dieser Idiotie. Idiotie, anders kann man es schon gar nicht mehr bezeichnen. Die ganze Angelegenheit wird immer lächerlicher.“ Die Gestapo hält in den Händen, worauf sie wartet – aus Osterode kommt der Beweis für ein Kapitalverbrechen, das in Kriegszeiten drakonisch geahndet wird. Der Gefreite Dorsay wird unter dem Vorwurf verhaftet, die Wehrkraft des deutschen Volkes zersetzen zu wollen. Für Joseph Goebbels, dem Dorsay stets suspekt war, die Gelegenheit, ein Exempel zu statuieren. Schauspieler, Musiker, Regisseure – als „Kämpfer an der Heimatfront“ vor dem Schützengraben bewahrt – sollen erfahren: Wer nicht spurt, hat sein Leben verwirkt. Zunächst wird Dorsay im August 1943 von einer Kammer des Reichskriegsgerichts zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, wogegen Goebbels wie SS-Führer Heinrich Himmler, soeben von Hitler zum Reichsinnenminister ernannt, intervenieren. Hat es einer wie Dorsay nicht verdient, aus der deutschen Volks- und Schicksalsgemeinschaft verstoßen, ja, mit dem Tode bestraft zu werden? Was eine andere Kammer am gleichen Gericht prompt erledigt. Am Vormittag des 29. Oktober 1943 trifft Dorsay im Hinrichtungsschuppen von Berlin-Plötzensee das Fallbeil.
Die Nachricht wird mit großen, tiefroten Plakaten rings um den Admiralspalast zur Schau gestellt. „Tanzen, tanzen ist mein Element. Hin und her, kreuz und quer, fröhlich schreiten, wenig gleiten“, hatte Dorsay gesungen, doch dann sollte sich der Swing mit Fräulein Dolly als Tanz auf dem Vulkan erweisen. Der Schmetterling kam der Flamme zu nah, schon vor seinem letzten Flug, mit dem allerletzten unwiderruflich. Goebbels schreibt ins Tagebuch: „Es kommen noch mehr Schauspieler dran.“ Zum Schluss werden es über 50 sein, totgeschlagen wie Hans Otto, in den Selbstmord getrieben wie Joachim Gottschalk, in Auschwitz vergast wie Kurt Gerron und Max Ehrlich und all die anderen, deren Namen längst vergessen sind.
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