Pogrom 1938: Der Mann von Revier 16 am Hackeschen Markt in Berlin
Zivilcourage Als andere hinter der Gardine stehen, gibt es in Berlin an der Neuen Synagoge einen Polizeioffizier, der das unglaublich Selbstverständliche tut. Er schützt das Gebäude vor Brandstiftung durch die SA und ruft die Feuerwehr
Die Neue Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin (um 1880)
Foto: Hulton Archive/Getty Images
Am 10. November 1938, kurz nach Mitternacht, klingelt in der Wohnung des Oberleutnants Wilhelm Krützfeld das Diensttelefon. Der ihn alarmiert, ist der Wachhabende seines Polizeikommandos, des Reviers 16 am Hackeschen Markt. In der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße sei Feuer gelegt, die Feuerwehr bereits unterwegs. Wir sollten es auch sein, denkt Krützfeld, eilt zu seinem Revier und anschließend mit einem Trupp zum Brandort.
Als die SA-Leute dort nicht weichen wollen, hält er ihnen Aktendeckel und Schriftstück unter die Augen, woraus hervorgeht, wegen seines „hohen Kunst- und Kulturwertes“ sei das Gebäude in der Oranienburger Straße 30 unter polizeilichen Schutz gestellt. Die Order Wilhelms I. rührt noch aus der Gründerze
938, kurz nach Mitternacht, klingelt in der Wohnung des Oberleutnants Wilhelm Krützfeld das Diensttelefon. Der ihn alarmiert, ist der Wachhabende seines Polizeikommandos, des Reviers 16 am Hackeschen Markt. In der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße sei Feuer gelegt, die Feuerwehr bereits unterwegs. Wir sollten es auch sein, denkt Krützfeld, eilt zu seinem Revier und anschließend mit einem Trupp zum Brandort.Als die SA-Leute dort nicht weichen wollen, hält er ihnen Aktendeckel und Schriftstück unter die Augen, woraus hervorgeht, wegen seines „hohen Kunst- und Kulturwertes“ sei das Gebäude in der Oranienburger Straße 30 unter polizeilichen Schutz gestellt. Die Order Wilhelms I. rührt noch aus der GrXX-replace-me-XXX252;nderzeit des Deutschen Reiches, wurde nach der Synagogen-Weihe 1866 erlassen und nie aufgehoben. Die Brandstifter sind verunsichert ob dieses couragierten Polizisten und seines Papiers. Auch hat Krützfeld die Pistole gezogen und Feuerwehrleute im Rücken, die nun vorrücken dürfen, um das Feuer in Foyer und Trausaal zu löschen, bevor es sich ins Hauptschiff frisst und die Nachbarschaft heimsucht – das erst 1933 eröffnete Jüdische Museum in der Nr. 29, die jüdische Gemeindeverwaltung im Haus Nr. 31, das angrenzende Jüdische Hospital in der Auguststraße. Hätte man diesen Block in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 amtlicherseits gern abbrennen sehen? Kaum vorstellbar, die Spandauer Vorstadt ist zu dicht bebaut. Es wäre nicht bei Schäden geblieben, die vielleicht beabsichtigt waren.Trotz des Eingreifens der Polizei aus dem Revier 16 bietet die Synagoge am Morgen danach ein Bild der Verwüstung – sämtliche Fenster im Erdgeschoss eingeschlagen, auf den Boden geworfene Thora-Rollen, auf die uriniert wurde, die Vorhänge des Trau-Baldachins in Fetzen gerissen, dazu Brandspuren überall, auch an den Säulen, die im Trausaal die Decke tragen. Nur gut 70 Jahre hat dieses Haus seine Pforten unbehelligt öffnen dürfen, auf „dass eintrete das gerechte Volk, das bewahret die Treue“, wie die Inschrift über dem Hauptportal verheißt.Ein Zeitsprung„Ein märchenhaftes Bauwerk, das uns in die phantastischen Wunder einer modernen Alhambra einführt und mit den anmutig leichten Säulen und den schwunghaften Rundbögen den tausendfältigen Zauber des maurischen Stils spüren lässt“, schwärmt die viel gelesene Nationalzeitung, als am 5. September 1866 die Neue Synagoge in der Oranienburger Straße geweiht wird. Es sind nur ein paar Minuten zu Fuß, aber es liegt mehr als ein Zeitalter zwischen diesem Andachtsort und der Heidereutergasse im Marienviertel von Alt-Berlin, wo sich die Gemeinde 1712 ihr erstes Gotteshaus bauen durfte. Unter der argwöhnischen Aufsicht von Friedrich Wilhelm I., der nur ein Stockwerk zubilligt. Nicht höher hinaus sollen sie, die Juden, dekretiert der König. Wollen doch immer mehr, als Uns recht ist. Der Bau muss deshalb sein Fundament unter Straßenniveau legen. Und es muss in den Gebetssaal hinabsteigen, wer zu seinem Gott aufblicken und mit ihm Zwiesprache halten will im Schein der Ewigen Lampe. Im Sommer 1718, vier Jahre nach der Eröffnung, erscheint Friedrich Wilhelm in aufgeräumter Stimmung, lässt sich herumführen und schenkt einen Thora-Vorhang, als wollte er sagen, Landeskinder seid auch ihr, nur geduldet zwar, doch meiner Staatskasse tut es gut.Im 19. Jahrhundert hat sich Preußen mit seinen Juden ausgesöhnt, wie es scheint. So stößt an jenem Septembertag 1866 auch Kanzler Otto von Bismarck zur Festgesellschaft der Synagogen-Weihe. Vergessen oder verdrängt ist ein Streit Jahre zuvor, als seine Regierung dieses Bauwerk lieber in Kreuzberg sehen will, aber die Gemeinde darauf besteht: Wo das jüdische Berlin seine Wurzeln hat, nahe beim Scheunenviertel und dem Friedhof an der Großen Hamburger Straße, dort soll dieses Gotteshaus seinen Platz finden, nirgendwo sonst. Der Wunsch, als jüdischer Deutscher gleichberechtigt und anderen Religionen ebenbürtig zu sein, braucht nichts weniger als Selbstverleugnung, wollen die Erbauer um den Architekten Eduard Knoblauch sagen.Es gab in der Gemeinde Bedenken, dieses Bauwerk könnte zu prunkvoll und zu erhaben geraten. Es sei ein schönes Theater, aber keine Synagoge. Erst sollte das Ganze 300.000 Taler kosten, dann wurden 750.000 fällig. Das werde sich herumsprechen. Man müsse sich nicht ducken, aber den Antisemiten auch kein Wasser auf ihre Mühlen schütten. Glauben sie ihrem Heinrich von Treitschke nicht unbesehen, wenn er ihnen in den Mund legt, was üble Hetze ist, und predigt: „Die Juden sind unser Unglück“?Aber es gibt doch so viel Beifall! Selbst die konservative Kreuzzeitung druckt eine Synagogen-Laudatio, die über jeden Zweifel erhaben ist. Dieser Tempel des Glaubens stelle „an Pracht und Großartigkeit“ alles weit in den Schatten, „was die christlichen Kirchen unserer Hauptstadt aufzuweisen haben“, schreibt dort ein „Kunstverständiger“ in einem nicht namentlich gezeichneten „Eingesandt“, von dem bald bekannt wird, dass es kein anderer verfasst hat als ein gelegentlicher Kolumnist des Blattes – der Dichter Theodor Fontane.Von der Heidereutergasse zur Oranienburger Straße und niemals zurück? Soll man sich verlassen auf das neue Zeitalter? Sisyphus hat seinen Stein den Berg so weit hinaufgerollt wie noch nie. Doch wenn ihm der Brocken wieder entgleitet, wird er dann nicht so tief hinabstürzen wie noch nie? – Nach 1933 wird die Neue Synagoge zum Ort der Zuflucht angesichts der Bedrängnis überall. Die jüdische Gemeinde in der Spandauer Vorstadt rückt enger zusammen, als immer mehr ihrer Mitglieder Deutschland verlassen, weil sie an einem Land verzweifeln, das ihnen Heimat war. Es tut gut, in der Synagoge Mendelssohn Bartholdys Oratorium Elias oder Händels Saul zu hören und sich einzulassen auf die welke Hoffnung, alles werde vorübergehen und bald wieder so sein, wie es einmal war. Am 10. November 1938 ist auch dieser Wartesaal verschlossen.Heeresbekleidungsamt IIIAnderntags wird der Oberleutnant Krützfeld angeschrien, was er sich erdreiste, der berechtigten Empörung des deutschen Volkes in den Arm zu fallen. Man hat ihn ins Polizeipräsidium zitiert zum Dienstherren Wolff Heinrich Graf von Helldorf. Dem SA-Obergruppenführer erwidert Krützfeld, als Kulturgut stehe die Oranienburger Straße 30 seit jeher unter Polizeischutz, also musste gehandelt werden. Bestrafung oder Degradierung bleiben aus. Welches Dienstvergehen wollte man geltend machen? Verhinderung eines Großbrandes? Missachtung des gesunden Volksempfindens? Und Krützfeld einfach aus dem Verkehr ziehen, in Schutzhaft nehmen wie üblich? Das hätte wohl Aufsehen erregt, der Oberleutnant aus dem Revier 16 war bekannt und beliebt, verkörperte staatliche Autorität und besaß so viel Anstand, sich in der Spandauer Vorstadt staatlicher Kriminalität entgegenzustellen. Sich an ihm zu rächen, hätte nicht oder eben zu gut ins Bild gepasst. Es dauert noch bis Anfang 1940, dass er versetzt wird und in Berliner Polizeiabschnitten Dienst tun muss, die durch Einberufungen oder Marschbefehle für Beamte ins besetzte Polen ausgedünnt sind. Im Januar 1942, kurz nach der Wannsee-Konferenz, wird Krützfeld vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Noch einmal bekommt er es mit dem SA-Führer Helldorf zu tun, der ihm die Entlassungsurkunde unterschreibt und „für seine dem Deutschen Volke geleisteten treuen Dienste den Dank des Führers“ ausrichtet.Und die Neue Synagoge? Das inzwischen als Kleiderkammer der Wehrmacht missbrauchte Gotteshaus wird in der Nacht zum 23. November 1943 von Bomben getroffen und brennt teilweise aus. Der Luftschadensbericht für die Reichshauptstadt vermerkt dazu unter der Kategorie öffentliche Gebäude: „Heeresbekleidungsamt III, Bln. C2, Oranienburger Str. 30, Totalschaden“. Um diese Zeit ist die Gemeinde ringsherum bereits ausgelöscht. Seit Herbst 1941 deportiert ins Getto von Riga – nach Treblinka, Auschwitz, Theresienstadt.
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