1941: Kesselschlacht

Zeitgeschichte Der deutsche Angriff trifft die Rote Armee hart. Im russischen Spielfilm „Sturm auf Festung Brest“ wird davon mit Respekt für den Heldenmut der Verteidiger erzählt
Ausgabe 24/2021
Sascha (Alexei Kopashov) sucht Anja – am Ende verliert er sie
Sascha (Alexei Kopashov) sucht Anja – am Ende verliert er sie

Foto: Mary Evans/Imago Images

Wildenten streifen den Morgenhimmel, schreien und kreischen, bevor sie in dumpfes Brummen verfallen, behäbig und größer werden, die Erde verdunkeln und mit Bomben aufbrechen. Der 2010 gedrehte russische Spielfilm Sturm auf Festung Brest erinnert mit jener Sequenz an den Augenblick, als das Verderben beginnt. Am 22. Juni 1941, um 3.58 Uhr Ortszeit, überfliegt eine erste deutsche Luftstaffel die Grenze zur Sowjetunion. Um die gleiche Zeit nimmt das XII. Armeekorps die Festung Brest unter Feuer, einen Grenzposten im Süden Weißrusslands. In der Zitadelle an den Flüssen Bug und Muchawez, erbaut im 19. Jahrhundert, sind gut 9.000 Soldaten und Offiziere stationiert, von denen viele mit ihren Familien in dieser Bastion aus Kasernen, Kasematten, Magazinen, Lazaretten und Wohnhäusern leben.

Ihrem letzten Tag im Frieden – es wird für so viele der letzte ihres Lebens sein – gilt der Prolog des Films. Alle freuen sich auf einen unbeschwerten Sonntag mit Kino im Klub und Tanz im Park, zu dem wie stets das Militärorchester mit dem zwölfjährigen Posaunisten Sascha Akimow aufspielt. Die Eltern des Jungen sind 1937 im Spanischen Bürgerkrieg gefallen, seither erspart ihm die Fürsorge der Roten Armee das Waisenhaus. Sascha verabredet sich mit seiner Freundin Anja, der Tochter des Grenzoffiziers Kischewatow, für den nächsten Morgen zum Angeln am Festungsgraben. Sie werden am Ufer sitzen, dem wippenden Schwimmer zusehen, das Rauschen der Bäume hören – den Flügelschlag der Wildenten, bis die tot vom Himmel stürzen, Feuerwände aufschießen und undurchdringlich sind. Die Kinder fliehen – barfuß in den Krieg.

Anzeichen eines heraufziehenden Unheils ließen sich zuletzt immer weniger übersehen. Sie nährten die Ahnung, bei einem Angriff womöglich auf verlorenem Posten zu stehen. In Sturm auf Festung Brest ist es Major Pjotr Gawrilow, der das unumwunden ausspricht. Politoffizier Leutnant Weinstein stellt ihn zur Rede: „Sie sind ein ehrenwerter Mann und guter Kommunist, wie kommt es, dass aus Ihrer Einheit Gerüchte kommen, die alle in Angst und Schrecken versetzen?“ – „Ich bin dafür verantwortlich“, entgegnet Gawrilow, „ich befürchte diese Invasion schon seit Längerem und behalte wohl leider recht. Es gibt keine Panik, nur große Sorgen, die wir uns alle machen sollten. Wenn die Deutschen kommen, sitzen wir hier wie Gefangene in einem Flaschenhals.“ – „Sie glauben also, dass uns die Armee im Stich lassen, uns dann nicht helfen würde?“ – „Das wird sie nicht, weil sie es nicht kann.“

Gawrilow behält recht. Am Abend des 22. Juni hält die Festung zwar stand, liegt aber bereits im deutschen Hinterland, da die Hauptkräfte des Feindes an ihr vorbei gegen Minsk ziehen. In den ersten Wochen des Krieges im Osten muss eine Stadt nach der anderen aufgegeben werden. Am 27. Juni –Minsk, am 1. Juli – Riga, am 10. – Ostrow, am 14. – Pskow, am 20. – Smolensk, am 14. August – Kriwoi Rog, am 20. – Nowgorod. Anfang September fällt Kiew. Die Sowjetunion büßt Territorium von der Größe Frankreichs ein. Am 22. Juni spricht Regierungschef Molotow im Rundfunk. „Es ist nicht das erste Mal, dass es unser Volk mit einem übermütigen, angreifenden Feind zu tun hat.“ Stalin lässt am 3. Juli von sich hören. Seine Anrede ist ungewöhnlich, nicht auf das übliche „Genossen! Bürger!“ beschränkt, sondern um „Brüder und Schwestern“ ergänzt. Man hört ihn tief durchatmen und Wasser trinken. „Das Ungeheuer Hitler“ habe wortbrüchig den Nichtangriffsvertrag von 1939 zerrissen. Doch sei man in keiner hoffnungslosen Lage. Durch den Pakt mit Deutschland wurde Zeit gewonnen, wertvolle Zeit, was sich auszahlen werde.

Worüber Stalin nichts sagen kann, worüber er auch später nie sprechen wird, das sind die vielen ignorierten Warnungen vor dem Überfall, der desolate Zustand der Armee. Ihr fehlen erfahrene Kommandeure, sie entbehrt Generale und Offiziere, die 1937/38 den Säuberungen zum Opfer fielen. So bündelt das Gefecht um Brest, was sich zunächst unablässig wiederholt. Es kommt zur Kesselschlacht, der nur entrinnen kann, wer kapituliert oder den Kampf bis zum Letzten führt. Je aussichtsloser die Lage für die Eingeschlossenen, desto furchtbarer ihr Martyrium – desto grenzenloser kann ihr Opfermut sein. Noch heute finden sich, eingeritzt in den roten Backstein der Kasematten von Brest, letzte Botschaften. „Ich sterbe, aber ich ergebe mich nicht. Lebe wohl, Vaterland.“ Als Hitler am 26. August 1941 das ausgebrannte Fort besichtigt, werden ihm die Inschriften gezeigt. Jüdisch-bolschewistische Fanatiker hätten das hinterlassen, die längst liquidiert seien.

„Schon vor der Arbeit am Film, den wir fast ausschließlich an den Schauplätzen von 1941 gedreht haben“, so Regisseur Alexander Kott in einem Interview, „kannte ich den Gedenkort Brest. Immer wenn ich dort war, hatte ich das Gefühl, auf brennender Erde zu stehen. Ich sagte mir, wir haben heute keine anderen Werte oder moralischen Prinzipien als die Soldaten damals. Wir sind gleich geblieben, wir würden alles tun, unseren Leuten in der Festung zu helfen, wurde mir bei den Dreharbeiten bewusst.“

Sascha findet Anja in einem Lager für Lebensmittel unter Schutt begraben, sie kann nicht mehr aufstehen, scheint aber unverletzt. Auf den Gesichtern der Kinder liegt ein Entsetzen, als hätten sie die nächsten Jahre gesehen, die zu Asche verbrennen werden. Als Anja befreit ist und wieder laufen kann, will sie bei Sascha bleiben und an einem sicheren Ort das Ende der Kämpfe abwarten. Vielleicht gibt es den, nur wo?

Die Handlung kommt immer wieder auf den einsamen Funker in einer Kaserne zurück, der Minute für Minute seinen Notruf absetzt: „Hier ist die Festung Brest, wir liegen unter schwerem Beschuss. Wir verteidigen uns mutig gegen die Deutschen, erbitten Verstärkung!“ Am 25. Juni, dem vierten Tag, ist der Widerstand am Cholmer Tor und auf der Westinsel entlang der Terespoler Befestigung noch vorhanden, jedoch hoffnungslos. Am schlimmsten für alle wird das langsame Verdursten. Deutsche Saboteure, die in sowjetischen Uniformen Stunden vor dem Einfall unerkannt eingesickert sind, wie der Film eine wahre Episode aufgreift, haben Wasserleitungen zerstört und Stromtrassen unterbrochen. Major Garilow lässt seine Soldaten das Fundament eines Kellers aufbrechen. Als sie auf Grundwasser stoßen, ist das mit Benzin vermischt. Es bleibt nur, dem Ruf des Herzens zu vertrauen und sich kriechend dem Festungsgraben zu nähern, der unter Beschuss liegt. Wer es wagt, stirbt für einen Helm oder eine Teekanne oder noch weniger im Feuer der Belagerer. Oder hat Glück. Dann sind ein paar Tropfen für jeden eine kurze Erlösung. Der Arzt muss entscheiden, werden einem Sterbenden die Lippen benetzt oder ist es ratsamer, das Maschinengewehr im Stockwerk über dem Lazarett zu kühlen, weil das den Überlebenden hilft, nicht wehrlos zu sein? Jedenfalls jetzt noch nicht.

Unweigerlich vergeht das Leben in der Umarmung des Todes und hat im Film die Gestalt eines Ziegelmenschen, der an eine Skulptur oder eine Puppe denken lässt, die in Blut und Schutt liegen blieb. Das Gesicht zur Maske erstarrt, die Augen gebrochen, das Grab entbehrt, dessen Erde versunkenes Leben schützen könnte. Die letzten Verteidiger von Brest trifft die 4.000 Grad heiße Feuerzunge eines deutschen Flammenwerfers, als nach der Kapitulation am 29. Juni 1941 das Polizeibataillon 307 die in einer Gruft hockenden sowjetischen Soldaten auslöscht.

Sascha Akimow überlebt. Als reifer Mann erzählt er im Epilog des Films: „Meine Anja wurde mit ihrer gesamten Familie im Herbst 1942 von den Deutschen erschossen. Wie ihr erging es auch allen anderen, die sich ergaben und die Festung Brest als Gefangene verließen. Ich habe meine Erinnerung an Anja und ihren Vater, Kommandant Kischewatow, nie verloren. Ich glaube einfach, dass sie alle noch irgendwo am Leben sind.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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