Gleis 17 des Güterbahnhofs Grunewald ist heute eine Gedenkstätte
Foto: Jürgen Ritter/Imago
Auf dem Pharus-Stadtplan für Berlin, erschienen 1902, ist entlang der Levetzowstraße im Bezirk Moabit kein Davidsstern eingezeichnet, kein Symbol für ein jüdisches Gotteshaus. Mehr als hundert Jahre später führt eine Ansicht des aktuellen Stadtatlasses an der gleichen Stelle zum gleichen Ergebnis. Eine getilgte Erinnerung? Der Jahrhundertfluch vom Vergessen?
In dieser Straße, benannt nach Albert von Levetzow, einem der ersten Präsidenten des Deutschen Reichstages in wilhelminischer Zeit, wird im Frühjahr 1914 eine der größten Synagogen Berlins geweiht. Der Bau des Architekten Max Alterthum hält es mit einem zeitgeistigen, dabei vornehmen und repräsentativen Neobarock. Durch ein Säulenportal zur Straße hin wirkt das G
irkt das Gebäude wuchtig, ohne pompös zu sein, und ist augenscheinlich auf den Nachweis bedacht, dass zum preußischen Berlin jüdisches Selbstbewusstsein gehört. Man habe es mit einem Gotteshaus zu tun, das „noch Synagoge und bereits halb Kirche ist“, merkt das Berliner Tageblatt zum Selbstverständnis des damaligen liberalen Judentums an.Doch wird von allen religiösen Andachtsorten Berlins dieser Friedenstempel die kürzeste Zeit Gläubige empfangen. Es bleiben ganze 27 Jahre. Nach der Pogromnacht vom 9. zum 10. November 1938, als Brandstifter Fackeln in den Gebetssaal schleudern, sind nur noch eingeschränkt Gottesdienste möglich. Auch damit ist es ab 1. Oktober 1941 vorbei. Als die Jüdische Gemeinde von Großberlin auf Weisung der Gestapo erste Deportationsbescheide verschickt, werden die Menschen in die Levetzow-Straße 7/8 beordert. Neben dem Jüdischen Altersheim in der Großen Hamburger und dem Jüdischen Krankenhaus in der Iranischen Straße wird das Gotteshaus zum Sammelpunkt für „Osttransporte“ aus der Reichshauptstadt. Im Herbst 1941 führen sie zunächst in die Ghettos von Łódź und Riga oder das Arbeitslager Trawniki bei Lublin, später ins „Altersghetto“ Theresienstadt in der okkupierten Tschechei, nach Auschwitz und Treblinka. Erstmals müssen sich am Morgen des 18. Oktober 1941 1.089 jüdische Kinder, Frauen und Männer vor der Synagoge zum Abmarsch aufstellen. Es sind überwiegend Leute aus der Gegend, aus dem Hansaviertel, der Gotzkowsky-, Turm-, Jagow- oder Beusselstraße. Sie haben eine letzte Nacht in einer stillen, oft schon geräumten Wohnung hinter sich, einen letzten Koffer gepackt und sich gefragt: Was soll man mitnehmen, wenn nur 20 Kilo Gepäck erlaubt sind und „Mundvorrat für drei Tage“, wie es im Bescheid der Gemeinde hieß? Irgendwann ist alles verstaut. Danach gibt es nur noch eine letzte Treppe hinunter in den Hof oder aufs leere Trottoir am frühen Morgen, den Blick zurück oder nirgendwohin. In der Synagoge wird es für die nächsten Tage dünne Papiermatratzen und ein paar Decken geben, keinen Waschraum, ein paar Eimer für die Notdurft.Die Deportationen beginnen in Berlin drei Monate vor dem 20. Januar 1942, als in einer Villa am Großen Wannsee „Generalinstanzen des Reiches“ offiziell beschließen, was längst beschlossen ist – die „Endlösung der Judenfrage in Europa“. An der Wannsee-Konferenz beteiligt sind das Reichsinnenministerium, das Justizministerium, das Auswärtige Amt, die Reichskanzlei, die Parteikanzlei, das Rasse- und Siedlungshauptamt, das Reichssicherheitshauptamt, das Generalgouvernement (Polen), dazu SS- und SD-Führer der Einsatzgruppen im Osten. Im Protokoll des gut eine Stunde dauernden Treffens „mit anschließendem Frühstück“, wie die Einladung ankündigt, ist nachzulesen, wie viele Menschen man „sonderbehandeln“ will: Aus dem Altreich 131.000, aus dem Generalgouvernement 2.284.000, aus Frankreich 165.000 im besetzten und 700.000 im unbesetzten Teil – insgesamt über elf Millionen Juden in den von Nazideutschland besetzten Gebieten und von ihm abhängigen Ländern.Anfangs werden in Berlin die zum Abtransport Befohlenen auf Lastwagen zum Bahnhof Grunewald gebracht, wo sie am Gleis 17 in Güter- oder Personenwaggons steigen müssen. Die „Alterstransporte“ nach Theresienstadt hingegen fahren vom Anhalter Bahnhof und nach einem Sonderfahrplan der Deutschen Reichsbahn: Ab Berlin 6.15 Uhr, an Dresden 9.04 Uhr, ab Dresden 9.20 Uhr; an Lobositz 12.52 Uhr, ab Lobositz 13.15 Uhr, an Theresienstadt 13.26 Uhr.Ab Februar 1942 wird der Güterbahnhof Putlitzbrücke im Norden Berlins zum bevorzugten Deportationsort. Wenn es dorthin geht, treiben Polizei und SS Hunderte oder Tausende zu Fuß von der Levetzowstraße quer durch Moabit, am Kleinen Tiergarten entlang, an der St.-Johannis-Kirche, an Brauhäusern vorbei, die Rathenower Straße hinauf. Wie die Strecke genau verlief, ist nicht bekannt. Längst ist kein fernes Echo ihrer Schritte mehr zu hören.Kein Schlurfen und Schieben, wie es den Dichter und Wehrkraftzersetzer Wolfgang Borchert 1944 zermürbt, wenn er beim Hofgang im Zellengefängnis Moabit vor sich hin trottet. Nur immer weiter und immer im Kreis, mit eingeknicktem Knie, bis es einem den Verstand raubt. Borchert wird über diese Zeit im Zuchthaus nach Kriegsende die Novelle Unser kleiner Mozart schreiben und sich einer Marter erinnern, die mit der Nähe zum Lehrter Bahnhof zu tun hatte. „Die Stadtbahn fuhr alle drei Minuten. Jedesmal rief eine Frauenstimme auf dem Bahnsteig: Lehrter Straße. Lehrter Straße. Das wehte rüber bis zu uns. Von morgens halb fünf bis nachts um halb eins. Achthundertmal. Lehrter Straße. Lehrter Straße.“Es zieht die Worte in endlose Nächte hinein. Sie gönnen keine Ablenkung zwischen nackten Wänden und vergitterten Fenstern, wo der Wind den Spinnen die Netze zerreißt. Höchstens anderthalb Kilometer Luftlinie sind es zwischen der Synagoge Levetzowstraße und dem Zuchthaus Lehrter Straße. Die Geschichte lässt ihre Tropfen ins gleiche Glas fallen. Dort ein Menschenzug auf dem Weg zur Gaskammer, hier ein Reichsfeind, der bald im Strafbataillon an der Front dafür büßen muss, Joseph Goebbels parodiert zu haben. „Lügen haben kurze Beine“, hat Borchert in seiner Kompanie den Klumpfuß des Ministers besungen und ist nun Todeskandidat wie viele in einem Zellentrakt, in den 1944 auch der Widerstandskämpfer Albrecht Haushofer eingeliefert wird. Der Geograf und Schriftsteller hält seit Mitte der 30er Jahre Kontakt zum Kreisauer Kreis um Yorck von Wartenburg und Graf von Moltke. Nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 wird er verhaftet und muss mit dem Schlimmsten rechnen.Gedrängt von der Angst, dafür bald keine Zeit mehr zu haben, schreibt Haushofer 80 Gedichte, die sein Bruder nach 1945 als Moabiter Sonette veröffentlichen wird (der Verfasser selbst hat das Zuchthaus nicht überlebt). Eines der Sonette ist mit Schuld überschrieben: „Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt. Ich musste früher meine Pflicht erkennen – ich musste schärfer Unheil Unheil nennen.“ Sie liegen eng beieinander, die Leidenswege in Berlin-Moabit, als es zu spät ist, ihnen auszuweichen.Nach dem 18. Oktober 1941 werden die jüdischen Bürger Berlins noch an 62 Tagen in die Vernichtungslager geschickt. Diese Tage werden kalt, sonnig, trübe, dunkel, hell und warm sein. Dabei hat das für die Deportierten jeden Sinn verloren. Die letzten Transporte führen am 2. Februar 1945 in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Ravensbrück, am 27. März noch einmal nach Theresienstadt. Die Zahl der Deportierten liegt zum Schluss bei 37.500, von denen etwa 1.900 zurückkehren.Wie gesagt, kein fernes Echo ihrer Schritte ist mehr zu hören. Aber sehen kann man sie noch. Als in Eisen geschnürte Menschen, die sich eine Rampe zu einem offenen Waggon hinaufschleppen. Dessen Dach tragen wieder andere Körper. Die sind so marmorschwer, dass ihnen die Last nichts anhaben kann – am Gedenkort für die Deportierten. Das Mahnmal mit Aufgang zum Güterwagen steht seit 1985 an der Levetzowstraße. Genau dort, wo einst die Synagoge ein Friedenstempel sein wollte.
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