Zeitgeschichte Nach der Shoah sind die jüdischen Lebenswelten in deutschen Großstädten unwiederbringlich verloren – im Berliner Scheunenviertel ebenso wie am Grindel in Hamburg
Wird das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana als Tag des Göttlichen Gerichts gefeiert, dann auch deshalb, weil zu diesem Anlass die Bücher offen vor Gott liegen, in denen das Vermächtnis eines jeden Menschen festgehalten ist. Isaac Bashevis Singer, 1978 erster in Jiddisch schreibender Nobelpreisträger für Literatur, hat das zu einer Prophezeiung inspiriert, die Trost spendet und Verheißung sein will. Gibt es im Himmel dieses Archiv, das menschliches Leiden aufbewahrt, werde es eines Tages für alle Seelen geöffnet sein. Wird man dann alle wiedersehen, die vergessen, weil verschwunden, die verloren, weil vernichtet sind?
Welches Geschenk würde uns zuteil, träfe das auf die einstigen Bewohner des Hamburger Grindels zu. Was hätten si
28;tten sie zu erzählen, die in diesem Viertel zu Hause waren – und erstickt sind in den Gaskammern von Auschwitz, erschossen wurden im Wald von Biķernieki bei Riga, an Typhus starben im Lager Theresienstadt oder verhungerten im Ghetto von Łódź? Das jüdische Leben am Grindel hat nur ein paar Jahrzehnte existiert. Nach 1933 wird es langsam, aber unübersehbar, bald unaufhaltsam und unwiderruflich entschwinden, als hätte es nicht einmal Spuren verdient, die auszulöschen so leichtfällt. Die kleine, überschaubare Welt einer weitgehend orthodoxen jüdischen Gemeinde mit Bethäusern und koscheren Geschäften, mit Altersstift und Waisenheim als Zeichen besorgter Wohltätigkeit und der Frömmigkeit an den Feiertagen geht so unwiederbringlich verloren wie das jüdische Universum im Berliner Scheunenviertel hinter dem Alexanderplatz.Das freilich anders aussieht mit seinen Gassen, Spelunken und Schlupflöchern einer archaischen Halb- und Unterwelt. Dagegen ist der Grindel mehr Vorhof als Hinterhof, kein Ghetto und kein Schtetl, weder Refugium noch Enklave, sondern Wohnort und Heimstatt für jüdische Familien, die hierherziehen, als die Gegend Mitte des 19. Jahrhunderts aus einem unerschlossenen, teils sumpfigen Gelände als Bauland gewonnen wird. Am Grindel im Stadtteil Rotherbaum leben vor dem Zweiten Weltkrieg zwei Drittel der gut 25.000 Hamburger Juden, deren Lebenswelten durch Einkommen und Status so verschieden sein können, dass sie einander nie begegnen. Es gibt in der Hansestadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts jüdische Kaufleute, Ärzte und Anwälte, dazu renommierte Unternehmer wie Albert Ballin, Reeder und Generaldirektor der HAPAG, der Hamburg-Amerika-Linie.Von anderem Schlag sind die kleinen Leute am Grindel, die Schlachter, Schneider, Buchhändler, Bäcker, Lehrer, Prediger, Fuhrmänner, Möbeltischler. Kein sozialer Abrieb, sondern der verzweifelten Ehrbarkeit eines Franz Biberkopf aus Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz verwandt. Sie bilden eine Gemeinschaft, die bewusst jüdisch ist und bewusst deutsch sein will. Manches Geschäft steht unter Aufsicht des Oberrabbinats, auf die Koscher-Zeichen an den Lebensmitteln, besonders in den Schlachterläden, soll Verlass sein wie auf die Trennung von Milchigem und Fleischigem bei den Sabbath-Feiern orthodoxer Familien. Die Straßen vor den Auslagen mit Dorsch, Heilbutt und Hering heißen Grindelallee, Poolstraße, Beneckenstraße, Moorweidenweg oder Bornstraße. Sie führen an kleinen „Wochentagssynagogen“ vorbei, in denen die Tora studiert wird. Die Straßen wirken bescheiden, sind breit, oft grau, mehr preußisch als hanseatisch. Es will auf einen ersten Blick kaum einleuchten, weshalb man den Grindel als einen „Vorort“ von Jerusalem beschreibt. Wer sich allerdings auf den ehrfürchtigen, die Traditionen achtenden Geist der Bewohner einlässt, der ahnt, woran gedacht ist. Wie im Berliner Scheunenviertel sind auch am Grindel Auswanderer aus dem Osten Europas gestrandet, die nach Amerika wollten und bis Hamburg kamen. Für sie wird die Kellerwohnung zum Asyl der kleinen Ewigkeit, in dem sich warten und hoffen lässt auf das Gelobte Land, ob es nun New York oder Palästina oder ein Traum sein wird. Man bleibt nicht, wo man ist, sondern wohin man es geschafft hat.Als Zentrum jüdischen Lebens gilt die große Synagoge am Bornplatz, verblendet mit rotem Sandstein, bekrönt mit einer weithin sichtbaren Kuppel aus braun glasierten Ziegeln, geweiht im September 1906. An Feiertagen wie Rosch ha-Schana, Pessach oder zum Fest der Tempelweihe (Chanukkah) sind die Gottesdienste gut besucht. Bis erste Schatten auf den Grindel fallen und später als Vorboten des Untergangs begriffen werden. Aus dem Gotteshaus zu treten, kann plötzlich bedeuten, beschimpft und angegriffen zu werden. Im Frühjahr 1930 hängt im Vorraum der Synagoge ein Blatt der Gemeinde: „Alle Besucher werden gebeten, sich nicht vor der Synagoge aufzuhalten oder zu versammeln.“In Rufweite des Tempels führt der Weg zur Talmud Tora Schule. Nach der Gründung 1911 ist sie zunächst eine orthodoxe Bildungsstätte und wird nach dem Ersten Weltkrieg zur Lehranstalt für junge Deutsche jüdischen Glaubens wie für Zöglinge jüdischer Herkunft, deren Eltern ihre Kinder taufen ließen. Von der Erinnerung bewahrt, wird gleichsam die Höhere Israelitische Mädchenschule am Grindel. Lehrerinnen wie Fräulein Rosenbaum und Fräulein Markus wollen Mädchen zu Müttern erziehen, die an der Seite eines gut situierten Ehemanns die jüdischen Gesetze achten, eine Familie zusammenhalten, die literarisch bewandert und in Gesellschaft zu geistreicher Konversation fähig sind.Oberrabbiner an der Bornplatz-Synagoge wird 1936 Joseph Carlebach, 1883 in Lübeck geboren und als Universalgelehrter geachtet. Er hat in Berlin Naturwissenschaften, Philosophie und Kunstgeschichte studiert, ist promovierter Mathematiker und ein passionierter Lehrer. Ab 1921 unterrichtet er als Rektor der Talmud Tora Schule Religionsgeschichte in hebräischer Sprache, um in der schulischen Lebenswelt ein jüdisches Lebensgefühl zu vermitteln und dem Land der Väter nahe zu sein. Er sorgt dafür, dass die Anstalt zur Zuflucht wird, als nach 1933 die „Entjudung deutscher Schulen“ einsetzt, und tröstet seine Schüler, als sich die Klassen trotzdem leeren. Es verlässt den Grindel, wer gehen will und sich das Auswandern leisten kann, sobald Geschäft und Mobiliar verkauft sind.Voller düsterer Vorahnung verfasst Carlebach 1936 ein Gebet: „Ich bitte Dich, Herr, dass unsere Heiligen Stätten nicht in Brand aufgehen, und dass unsere Kinder nicht wie arme Schafe verschlagen werden in der ganzen Welt.“ Er bittet umsonst. Er hat nichts zu bitten, er muss in der Nacht zum 10. November zusehen, wie die Bornplatz-Synagoge geschändet wird, indem man die Tora-Rollen aus der Heiligen Lade reißt und in die Bäume ringsherum hängt. Die Glöckchen, mit denen die Rollen geschmückt sind, erwidern jeden Windstoß. Sie sind nicht zu überhören und sind noch zu hören, als am 11. November in der Synagoge Feuer gelegt wird, um die Gemeinde endgültig auszutreiben. Die Perfidie der Hamburger Behörden geht so weit, sich das Areal unter Verweis auf den Kaufvertrag von 1902 anzueignen. Es hieß darin, das Grundstück am Bornplatz dürfe nur für den Bau und Betrieb einer Synagoge verwendet werden. Entfalle dieser Zweck, behalte sich die Stadt das Recht auf Rücknahme vor. Am 14. Juli 1939 berichtet das Hamburger Fremdenblatt vom Abbruch des Tempels. „Wo heute noch ein paar traurige Trümmer stehen, wird bald ein freundlicher Grünplatz allen Volksgenossen Freude machen.“Soll die Volksgenossen auch erbauen, dass man die Gebeine der Toten aus ihren Gräbern schleudert? 1937 wird der alte Grindelfriedhof geschleift. Gleiches widerfährt sechs Jahre später dem „Guten Ort“ an der Großen Hamburger Straße in Berlin. Die Gestapo lässt mittendurch einen Splittergraben ziehen, den Grabsteine befestigen. Von Barbarei heimgesucht wird so am Rande des Scheunenviertels einer der ältesten jüdischen Begräbnisorte in Deutschland. Wer die Toten derart schändet, der will sagen: Wir nehmen euch mit dem Leben auch die Geschichte. Ihr habt nie existiert.
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