1945: Junge von Block 61

Zeitgeschichte Das KZ Buchenwald befreit sich selbst und wird befreit. Unter den Geretteten: ein dreijähriges Kind. Seine Geschichte erzählt Frank Beyers Film „Nackt unter Wölfen“
Ausgabe 16/2020

„Jawoll, Herr Kommissar. Wie lange ich im Lager bin? Acht Jahre, Herr Kommissar! Wie ich das ausgehalten habe? Als ich noch im Polizeigefängnis saß und zum ersten Mal von Buchenwald hörte, das klang so ..., nein, aber das war ganz anders. Schlamm, nichts als Schlamm. Das Schlimmste waren die Appelle, frühmorgens noch mitten in der Nacht. Runter vom Strohsack und in die nassen Klamotten. Antreten zum Appell. Im Gleichschritt, Marsch! Links, zwei, links, zwei. Pitsch, patsch, pitsch, patsch. Appellplatz, Schlammsee, Stehen. Regen wie aus Gießkannen, weiter stehen, schaukeln, frieren. Arbeitskommandos antreten, raus aus dem Lager. Pitsch, patsch, pitsch, patsch. Ein Lied! Mitten im Wa-halde, überdeckt von So-honnenschein, im letzten Haus an der Hei-heide, sitzt ein steinaltes Mä-hägdelein ...

Das musste ich Ihnen alles mal erzählen, Herr Kommissar.“

Der Häftling August Rose will nach acht Jahren im KZ Buchenwald nicht zum Schluss noch draufgehen, Anfang April 1945, da die Amerikaner schon vor Kassel stehen. Vielleicht noch zehn, höchstens 15 Tage, dann ist es überstanden. Doch nun sitzt Rose in einer Zelle und zittert dem Verhör bei der Gestapo Weimar entgegen. Die SS will wissen, wo sie im Lager ein drei Jahre altes jüdisches Kind versteckt haben. Rose wird es ihnen sagen, er will das nicht, aber er wird. Auf der zweiten Pritsche in seiner Zelle liegt der Häftling Rudi Pippig mit blutverschmiertem Gesicht und den blutenden Wunden von einer brennenden Zigarre auf der Brust. Pippig musste als Erster zum Verhör und hat nichts preisgegeben, aber darauf kam es der Gestapo nicht an. Rose soll sehen, wozu sie imstande ist.

Na, mein Lieber, dann setzen Sie sich mal, sagt Kommissar Gey jovial, vor sich die glimmende Zigarre im Aschenbecher. Mögen Sie Zigarren?

Pippig ist tot, als Rose in die Zelle zurückkommt. In schreiender Todesangst hat er ausgesagt, das Kind sei in Block 61, der Seuchenbaracke (wo es freilich so gut versteckt ist, dass die SS leer ausgeht).

DEFA-Regisseur Frank Beyer lässt in seinem Spielfilm Nackt unter Wölfen, gedreht 1963 nach dem gleichnamigen Roman des Buchenwald-Häftlings Bruno Apitz, die Kamera so in Roses und Pippigs Zelle blicken, dass der Raum wie ein sich jäh verengender Verschlag wirkt. Als sollte es kein Entrinnen geben, aus diesem Kerker nicht und vor der Entscheidung nicht: sich opfern oder sich retten? Ein Kind retten oder ein Kind opfern?

Zacharias Jankowski, ein polnischer Häftling, hat den Jungen im März 1945 aus Auschwitz kommend ins Lager geschleust. Er hat ihn durchgebracht, seit die Eltern vergast wurden, in einem klapperigen Koffer auf dem Gewaltmarsch bis nach Buchenwald geschleppt, verborgen, versorgt. Auch im Lager wäre das Kind niemals sicher, aber sicherer als auf einem erneuten Transport. Das weiß auch André Höfel, Kommunist und Kapo der Effektenkammer, wo der Koffer mit dem Kind landet, aber nicht bleiben darf, sagen ihm die Kameraden vom Internationalen Lagerkomitee. Darauf besteht vor allem Herbert Bochow, der die illegale Organisation führt, zusammenhält, vor Entdeckung bewahren will. Höfel darf niemals auffallen, nicht der geringsten Sache wegen. Er ist der Kopf des bewaffneten Selbstschutzes, nur ihm ist bekannt, wo die Waffen versteckt sind und wen er daran ausgebildet hat. An Karabinern, Pistolen und Granaten, ins Lager geschmuggelt während der Luftangriffe.

Von seinen Genossen hört Höfel: Wir haben die Verantwortung für das Leben von 50.000 Menschen, das ist mehr als die Sorge um ein kleines Kind. Die Marter des Gewissens und der Zwang des Kalküls. Er gibt für Höfel, für Bochow, das ganze illegale Komitee einen Abgrund, in dem alle Gedanken und Erwägungen ohne Echo bleiben. Sie mögen tun, was sie wollen, niemand dürfte sie dafür richten. Nur sie selbst könnten es tun.

Das Kind retten oder das Kind opfern? Pippigs Tod und Roses Qual. Kann man sich ein Gewissen leisten, wenn das eine Frage des Überlebens ist? Aber wofür leben, wenn es keine Frage des Gewissens ist, ein Kind vor der SS zu schützen, die keine Gnade kennt?

Im April 1945 steht in Buchenwald zu viel auf dem Spiel, als dass sich darauf antworten ließe. Je näher die US-Armee rückt, desto weniger ist auszuschließen, dass die Wachmannschaften – annähernd 6.000 Mann – das Lager zusammenschießen. Um dem nicht ausgeliefert zu sein, gibt es die Waffen, kleine Widerstandsgruppen, den Willen zur Selbstverteidigung, womöglich der Selbstbefreiung von Buchenwald.

Errichtet worden ist das Lager ab Juli 1937 acht Kilometer von Weimar entfernt auf Befehl des Reichsführers SS. Da Mitte der 1930er Jahre die Zahl der KZ-Häftlinge in Deutschland vorübergehend sinkt, ist anzunehmen, dass mit dem 1935 begonnenen Ausbau des Lagersystems Vorsorge getroffen wird, einmal Kriegs- und politische Gefangene aus anderen Ländern zu internieren. Jedenfalls hat Weimars fürstliche Domänenverwaltung dem NS-Staat eine 150 Hektar große waldreiche Gegend vermacht, gelegen am Nordhang des Etterberges, was zu allen Jahreszeiten Nebel, Kälte und Regen verheißt. Das erste Arbeits- und Aufbaukommando zählt 1.400 Schutzhäftlinge, rekrutiert aus den Lagern Lichtenburg und Sachsenhausen. Es sind „Politische“ (roter Winkel), „Kriminelle“ (grün) und „Bibelforscher“ (violett) oder eben Zimmerleute, Maurer, Dachdecker, Rohrleger, Sanitäter und Köche. Sie bauen SS-Kasernen, errichten Baracken, erst aus Holz, später aus Ziegeln, ziehen einen vier Kilometer langen Stacheldrahtzaun, zimmern Latrinen ohne Entwässerung, die zu riesigen Kloaken werden, in die man Häftlinge zur Bestrafung oder zum Vergnügen der SS-Bewacher stößt und ertrinken lässt.

Vom Ettersberg aus hatten einst Goethe und Charlotte von Stein auf Eichen- und Buchenwälder geblickt, jetzt herrschen dort Barbarei und Brutalität. Muss es heißen, ausgerechnet Weimar, Stadt der deutschen Klassik und Idyll bürgerlicher Bildungsromantik, wird zur Transitstation des Grauens? Oder sollte es heißen: Gerade Weimar! Weil es dem Regime ganz recht ist, in dieser Gegend mit Anstand und Sitte zu brechen. Und sich das leisten zu können. Die „Goethe-Eiche“ bleibt schließlich stehen, am Rande des Appellplatzes. Ehrerbietung verträgt sich mit der arischen Gefühlswelt.

Als das Lager im Sommer 1938 voll „bezugsfähig“ und dem ersten Kommandanten, SS-Standartenführer Karl Otto Koch, übergeben ist, liegt die tägliche Ernährungspauschale für einen Häftling bei 55 Pfennig, sodass an Sonntagen ganze Blocks „aus erzieherischen Gründen“ hungern müssen. Nach dem Überfall auf Polen wächst die Zahl der Häftlinge Ende 1939 auf 11.800, um danach von Jahr zu Jahr anzusteigen. Es werden Polen, Tschechen, Slowaken, Österreicher, Belgier, Dänen und Franzosen nach Buchenwald deportiert. Im Sommer 1941 kommen 8.000 sowjetische Kriegsgefangene an und sind dazu bestimmt, in der Genickschuss-Anlage zu sterben.

Begünstigt durch die Selbstverwaltung der Häftlinge, die der Kommandantur abnehmen soll, was die nicht mehr beherrscht – die Organisation einer zuletzt mit 50.000 Menschen überbelegten Barackenstadt – , entsteht 1943 das Internationale Lagerkomitee als konspirative Zelle, geführt von deutschen Kommunisten, Höfel und Bochow, wie sie im Roman von Bruno Apitz heißen.

Was Bochow befürchtet hat, das geschieht. Höfel wird denunziert, in den Bunker gebracht und ausgepeitscht. Er schreit, aber er schreit keinen Namen heraus – bis seine Peiniger das Donnern der amerikanischen Artillerie nicht mehr aushalten und abhauen. Am 11. April 1945 gegen elf Uhr übernimmt der Lagerschutz die Kontrolle, zerschneidet den Stacheldraht und besetzt die Wachtürme. Buchenwald ist befreit, als die 3. US-Armee anrückt. Höfel hat das Kind unterm Arm, als er fassungslos auf dem Appellplatz steht. Nur Pippig fehlt. Von Pippig keine Spur. Haufen von leeren Koffern liegen auf der Lagerstraße.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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