„Ich stehe draußen, wieder draußen. Gestern Abend stand ich draußen. Heute steh ich draußen. Und die Türen sind zu. Und dabei bin ich ein Mensch mit Beinen, die schwer und müde sind. Mit einem Bauch, der vor Hunger bellt. Mit einem Blut, das friert hier draußen in der Nacht.“
So winselt, stöhnt, schreit, flüstert, klagt, denkt und schweigt Beckmann, der ehemalige Unteroffizier von der Ostfront, als er im Winter 1946/47 durch Hamburg taumelt, wo die Schornsteine zerbombter Häuser wie Leichenfinger in den Himmel zeigen. Mit Beckmann kehrt kein Odysseus heim. Es kriecht eine Kreatur herum, bittet und bettelt um Zuflucht, aber die Türen sind zu. Beckmann, dieser Archetyp des Schicksals, ist die Hauptfigur in Wolfgang Borcherts Drama Draußen vor der Tür, das am Abend des 13. Februar 1947 vom Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) als Hörspiel ausgestrahlt wird. Dem 25-jährigen Autor selbst bleibt ein Empfang der Sendung verwehrt. Sein Hamburger Bezirk liegt der üblichen Stromsperre wegen in tiefem Dunkel. Auch ist er schwach, hinfällig, zu krank, um in ein anderes Viertel zu wechseln. Wolfgang Borchert war lange der NS-Militärjustiz ausgeliefert und zu lange ohne ärztliche Hilfe.
Im Juni 1942 sitzt er wegen angeblicher Selbstverstümmelung an der Smolensker Front monatelang im Nürnberger Militärarrest, den Antrag der Anklage im Nacken, Tod durch Erschießen sei die angemessene Strafe für jemanden, der sich so davonstehlen wolle. Sechs Wochen vergehen. Die Urteilsverkündung wird ausgesetzt, wieder angesetzt, erneut verschoben. Eine Hölle von Tagen und Nächten, bis es heißt: Zur Bewährung an der Front begnadigt. Aber Borchert kann nicht kämpfen. Entkräftet, mit Verdacht auf Fleckfieber und von einer Gelbsucht gezeichnet, landet er Ende 1942 im Feldlazarett Smolensk, wird notdürftig behandelt, nicht geheilt. Wenigstens gibt es vier Wochen Genesungsurlaub in Hamburg, die Borchert schreibend verbringt, mit Gedichten wie bisher, obendrein ersten Novellen (An diesem Dienstag) über die Erlebnisse an der Front, an die er wegen der Fieberanfälle nicht erneut kommandiert, sondern einer Einheit in Jena zugeteilt wird. Eine Goebbels-Parodie auf der Stube erheitert Kameraden und erregt Denunzianten. Seit Januar 1944 sitzt Borchert erneut als Untersuchungsgefangener ein, diesmal im Zellengefängnis Berlin-Moabit, ein vorbestrafter Selbstverstümmler und ein mutmaßlicher Wehrkraftzersetzer. Wieder wird ihm jeder medizinische Beistand verweigert, lautet das Urteil auf „Bewährung vor dem Feind“, obwohl der Angeklagte als „nur bedingt kriegsverwendungsfähig“ eingestuft wird.
Heimkehr eines Heimatlosen und Todgeweihten
Am 10. Mai 1945 ist es endlich vorbei, Borchert wieder zu Hause in Hamburg. Die Heimkehr eines Heimatlosen und Todgeweihten, dessen Körper dem Vergehen nicht mehr lange standhalten wird, zu sehr sind Milz und Leber geschädigt. Wie soll er sagen, was er noch sagen will, wenn die Feder immer fieberhafter übers Papier rast, das Sitzen an der Schreibmaschine zu Krämpfen führt? „Ich möchte Leuchtturm sein in Nacht und Wind, für Dorsch und Stint, für jedes Boot – und bin doch selbst ein Schiff in Not!“, schreibt er im Namen einer Generation, die vom Krieg zerstört wurde, auch wenn sie seinen Granaten entkam.
Vor der Verwandlung ins Körperlose gelingt es, einen Seelenverwandten zu finden, der wie sein Schöpfer überlebt hat, ohne davongekommen zu sein. Borchert wird Beckmann. Und Beckmann rettet Borchert. Für ein paar Tage zumindest, für acht, um genau zu sein, in denen Draußen vor der Tür entsteht als dramatisches Traktat, das wohl „kein Theater spielen und kein Publikum sehen will“, ist der Autor überzeugt. Und hat er nicht recht? Sein Beckmann ist eine Zumutung, ein archaischer Held, ein Narr und Klabautermann, das Gesicht von der Gasmaskenbrille entstellt. Nach „tausend Tagen und tausend sibirischen Nächten“ der Gefangenschaft hofft Beckmann auf die eine offene Tür, die reichen würde, damit er zurückfindet in ein Leben, das ihn auffängt. Mit dem er sich wiedererkennt. Aber wohin es ihn auch treibt in Hamburgs Schattenwelt mit diesem ungestümen Ausverkauf von Menschenleben – er kommt nirgends an, nirgends herein.
Eine fremder Mann liegt in seinem Bett, eine fremde Frau steht in der Wohnung seiner Eltern: Haben den Gashahn aufgedreht, die Alten. Lagen blau und steif in der Küche. „Von dem Gas hätten wir einen ganzen Monat kochen können.“ Seinem Oberst will der Unteroffizier Beckmann „die Verantwortung“ zurückgeben. Will nicht länger zuständig sein für die unter seinem Kommando Gefallenen. Er sei vielleicht ’ne Marke, mit dieser komischen Brille gehöre er unbedingt ins Varieté, lacht ihn der Oberst aus und sich Tränen ins Gesicht. Und der Direktor des Varietés? Einen Auftritt als „Wasserleiche mit Gasmaske“ kann der sich schon vorstellen. „Schade, dass das Publikum so was nicht sehen will.“
Beckmann in seiner Stunde null trifft auf Deutschland im Jahr zwei nach der Stunde null, auf Menschen, befallen von der Seuche und Sucht des Vergessens, gegen die kein Krieg gewachsen ist. Und keine Not. Beckmann kann tun, was er will, bebend vor bleierner Schwere und zitternd vor angestauter Verzweiflung, immer zieht es ihn ins nasse Grab der Elbe, wo es kalt ist und er endlich wieder einschlafen kann, wenn das Vergangene hinabsinkt wie ein leerer Stiefel.
Wie Borcherts Beckmann wäre ein Vierteljahrhundert zuvor womöglich Erich Maria Remarques Paul Bäumer zurückgekehrt, hätte ihn nicht im Oktober 1918, an einem Tag, über den im Heeresbericht stand, „im Westen sei nichts Neues zu melden“, ein französischer Scharfschütze erwischt. Bäumer hatte doch nur die Hand ausgestreckt nach einem Schmetterling oben am Rand des Grabens.
Borchert erreichen nach der NWDR-Sendung Briefe von Schicksalsgefährten. Unterzeichnet mit „die Pioniere von Smolensk und Wjasma“ oder „die jungen Unteroffiziere von Stalingrad“, die ihn wissen lassen: „Der Ring des eisigen Schweigens, das wirksamste Mittel unserer Abwehr gegen eine uns fremd gewordene Heimat, ist an einer Stelle durchbrochen.“ – „Lass Dich auf Deinem einmal beschrittenen Weg nicht beirren. Schreibe für uns, Deine Kameraden“, verlangt einer, der mit „ein Kriegsversehrter aus Essen“ unterschreibt. Dass Borcherts expressive Sprachwut viel fatalistische Hingabe ans Unabänderliche umgibt, stört kaum. Der Zeitgeist verzeiht nicht nur, er braucht die suizidale Inbrunst. Und Bertolt Brechts Hinweis – „Die dunklen Mächte“, (…) die dich da schinden, sie haben Name, Anschrift und Gesicht“ – verblasst.
Im Winter 1945/46 schreibt Borchert mit der Erzählung Die Hundeblume ein Meisterwerk, so dass Verleger wie Ernst Rowohlt und der Schweizer Emil Oprecht auf ihn aufmerksam werden. Bald sorgen sie dafür, dass Ende September 1947 für Borchert eine Kur im Baseler Clara-Spital finanziert wird, auch wenn an Heilung nicht mehr zu denken, allein auf Linderung zu hoffen ist. Zur gleichen Zeit taucht der Name des Dichters an Hamburger Litfaßsäulen auf, um die Uraufführung von Draußen vor der Tür in den Kammerspielen anzukündigen. Am 20. November 1947, einen Tag bevor sich Beckmann auf die Bühne tastet – „Mit einem Bauch, der vor Hunger bellt. Mit einem Blut, das friert hier draußen in der Nacht“ –, trifft ein Telegramm aus Basel ein: Wolfgang Borchert hat uns endgültig verlassen. Die Premiere anderntags wirkt wie das Requiem für eine verlorene Generation und ihren verlorenen Dichter.
Borchert heute noch gewachsen zu sein, scheint schwer möglich. Der Künstler und sein Werk sind weitgehend vergessen. Auch herrscht der Irrglaube vor, die panische, kreatürliche Angst eines Beckmann könne niemals wiederkehren. Allzeit zur Schau gestellte Selbstgewissheit immunisiere gegen das Fatum des schuldlos Strauchelnden, dem selbst „ein letzter Tierschrei des letzten Tieres Mensch“ (Borchert) nicht mehr hilft, verriegelte Türen aufzustoßen.
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