Waren alle sechs Hochöfen beschickt, gab es Nächte der tausend Feuer, denen zu entkommen kaum möglich war. Das Leuchten holte die Stadt überall ein, ihr war das Werk ins Gesicht geschrieben, von Anfang an, bis zum bitteren Ende, bis heute. Eisenhüttenstadt hätte es ohne Eisenschmelze, Konverter, Walz- und Werkstraßen nie gegeben. Die Hauptstraßen verliefen wie ein geöffneter Fächer, zusammengehalten und zusammengeführt, wo das Haupttor zur Hütte stand. Doch warum darüber im Präteritum schreiben?
Vieles in Eisenhüttenstadt existiert noch, wie es entstand. Anders als bei mancher Biografie im Osten findet sich für die Vita dieser Stadt kein gnädiges Gedächtnis, das aussiebt, was klumpt. Als sich vor sieben Jahrzehnten abzeichnet, dass ein solches Gemeinwesen im märkischen Sand erstehen soll, ist die DDR noch kein Jahr alt und verfügt über eine zu schmale metallurgische Basis. Aus Eisenerz Stahl zu gewinnen, ist eine Frage des ökonomischen Überlebens. Was die Maxhütte im thüringischen Unterwellenborn, die Stahlwerke in Hennigsdorf, Riesa und Brandenburg leisten, kann den Bedarf nicht decken, nicht mal ansatzweise. Zu vieles ging im Krieg verloren oder musste als Reparation in die Sowjetunion ausgelagert werden. Was soll die Reichsbahn im Osten mit einem Schienennetz anfangen, dem allenthalben das zweite Gleis demontiert worden ist? Und wie kann eine brachliegende Industrie, der Automobilbau in Thüringen, der Maschinenbau in Sachsen und Sachsen-Anhalt, aus der Agonie erwachen, solange es an Rohstoffen fehlt? Die westdeutschen Stahllieferanten fallen aus. Sie sind im Sanktionsmodus, seit sich die Regierung Adenauer im Februar 1950 einem gegen die DDR verhängten und von den USA verlangten Stahlembargo angeschlossen hat, aller sonst beteuerten Sorge um die Landsleute von drüben zum Trotz.
Für Eisenerz kann die Sowjetunion aufkommen, für Hochöfen nicht. So beschließt der III. Parteitag der SED im Juli 1950, mit einer Eisenschmelze in der Niederlausitz zugleich eine Wohnstadt der Hüttenwerker zu bauen. Entstehen soll sie, wo sich die Kleinstadt Fürstenberg duckt, der Oder-Spree-Kanal vorbeifließt, Schienen- und Straßenanschluss vorhanden sind. Axthieb auf Axthieb, Spatenstich auf Spatenstich, Fundament auf Fundament werden fortan Werk und Stadt gleichermaßen dienen. Die Erbauer sind jung, enthusiastisch, oft Flüchtlinge aus Ostpreußen oder Schlesien und froh, etwas zu finden, wo man ankommt, um hinzugehören.
Dass Eisenhüttenstadt bei Projekten des Städtebaus aus dem frühen 20. Jahrhundert Anleihen nimmt, lässt sich kaum übersehen, aber kopiert wird nicht. Gewollt ist keine „Weiße Stadt“ wie die gleichnamige Großsiedlung von Otto Rudolf Salvisberg in Berlin-Reinickendorf, kein Quartier wie die „Wohnstadt Carl Legien“ (Architekt Bruno Taut), die Anfang der 1930er ein alternatives, soziales Bauen in den Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg trägt – eher eine Werkssiedlung wie die sich ab 1928 an der Berliner Jungfernheide ausbreitende Siemensstadt.
Im Juli 1950 verabschiedet der DDR-Ministerrat die „16 Grundsätze des Städtebaus“, die einem Vorhaben wie Eisenhüttenstadt nahelegen, dem Hang nach urbaner Verdichtung und Enge zu widerstehen. Herbert Härtel, 1956 zum Stadtarchitekten berufen, erinnert sich der Maxime, eine Region der Rückständigkeit zu entreißen. „Es ging uns einfach darum, stadthygienisch gesunde Bedingungen zu schaffen und eine für Städte mit 50.000 Einwohnern erstrebenswerte, ökologisch begründete Dichte zu haben, die automatisch Urbanität erzeugt.“ Um dem gerecht zu werden, schlagen Grünachsen ihre Breschen durch die seinerzeit gebauten Quartiere I bis IV, sie führen an drei-, maximal viergeschossigen Wohnblöcken vorbei, deren Fassaden durch Erker mit ornamentalem Dekor und Arkaden aufgebrochen sind. Wohnhöfe sorgen für Gartenfläche und sind über mit Torbögen versehene Durchlässe erreichbar, damit sich ein Quartier mehr entdecken als ertragen lässt und dem Stigma „Retortenstadt“ entgeht. Um Wohnen und Wohlbehagen zu vereinen, bauen die Architekten Häuser und keine Manifeste, haben sie Mut zum Freiraum und zur Plastik im freien Raum. Eine wachsende Stadt wird zum Kunstmäzen. Die „Altweiber“ von Walter Howard schwatzen im Terrakotta-Brunnen, die „Törichte Jungfrau“ (Axel Schulz) plustert sich im Park an der Brecht-Allee, der „Liegende Junge“ (Herbert Burschik) sonnt sich vor der Gagarin-Schule. Eine Erdkugel steht im Park, der Bildhauer Jo Jastram hinterlässt „Raufende Jungen“, Kopfstehendes und Bodenständiges. Selbst am Werksgelände wird auf Statuen wie „Jungarbeiter“ nicht verzichtet. Das Alltägliche, Ebenerdige, Menschengemäße der Figuren dämpft das Pathos des von der Sowjetunion übernommenen neoklassizistischen und – wie man glaubte – artgerechten sozialistischen Städtebaus, der in Eisenhüttenstadt freilich nie zu solcher Monumentalität ausholt wie mit den Wohnachsen der Stalin-, später Karl-Marx-Allee in Ostberlin.
1960 zählt die Kommune am Kanal gut 25.000 Bewohner – wer herzieht, will im Eisenhüttenkombinat Ost (EKO) arbeiten und vor dessen Toren zu Hause sein. Die Stadt lockt nicht nur mit Wohnungen, sondern mit einem Wohnkomfort, wie er 15 Jahre nach Kriegsende für die DDR mehr Luxus als Standard ist. Und wer hat schon das Glück, sich einem Ort anzuvertrauen, der nichts Vorgefundenes, vielmehr das stetig Werdende ist?
Schaden nimmt der architektonische Anspruch, als Mitte der 1970er Jahre eine strikt ökonomischen Kriterien gehorchende Industrialisierung das Bauwesen erfasst. Bei den Wohnquartieren VI und VII ist das in Eisenhüttenstadt ansässige Entwurfsbüro nicht mehr für den Schnitt der Appartements zuständig. Wie überall in der DDR erhält normierter Plattenbau den Vorzug und beschert auch Eisenhüttenstadt bis dato vermiedene Betongebirge. Immerhin schließt der letzte Bauschub (1985 steigt die Einwohnerzahl auf 53.000) die Lücke zum Stadtteil Fürstenberg. Nun wächst zusammen, was schon seit 1961 zusammengehört, als Neu- und Altstadt zu Eisenhüttenstadt fusionieren und zeitgeschichtlicher Ballast entsorgt werden kann: der 1953 zunächst auf den Namen „Stalinstadt“ getaufte Standort.
Dessen Geschick ist schwer ins Straucheln geraten, als am 5. Juni 1990 im Werk die turnusmäßige Generalreparatur von Hochofen I fällig ist. Angeblasen im Herbst 1951, hat es an dieser Anlage den ersten Abstich gegeben, floss hier zum ersten Mal Eisen in Eisenhüttenstadt, ein Rinnsal nur, aber immerhin. „Bühne sechs gesäubert“, steht für den 30. Juni 1990 im Logbuch von Ofen I. Der letzte Eintrag am Ort der ersten Schmelze, im Jahr darauf folgt die Demontage. Das Eisenhüttenkombinat Ost ist für das größer gewordene Deutschland zu groß. Die Stahlindustrie an Rhein und Ruhr – daran gewöhnt, mit Überkapazitäten umzugehen – lässt über die Treuhand wissen, man solle das EKO „vom Markt nehmen“. Was so klingt wie: „Lasst uns übers Wochenende mal die Deko aus dem Schaufenster nehmen.“ Eisenhüttenstadt, das es ohne die Eisenhütte nicht gäbe, läuten die Totenglocken. Von 11.500 Beschäftigten müssen innerhalb weniger Monate 7.000 beim Arbeitsamt antreten, um sich abzuholen, was ihnen zugedacht ist: Arbeitslosengeld, Altersübergang mit 55, Vorruhestand mit 60, ABM, Umschulung, Kurzarbeit. Stolze Hochöfner bevölkern nun Fensterbretter, Parkbänke, Aldi, Kegelbahn oder Schrebergärten in den Diehloer Bergen. Sterben, bevor man beerdigt wird, oder der Stadt den Rücken kehren, bevor es dazu kommt. Sich der Gewissheit verschließen – es war alles umsonst.
Nach Jahren in der Schwebe blieb schließlich ein integriertes Hüttenwerk mit 2.500 Arbeitsplätzen als Ableger belgischer und niederländischer Stahlkonzerne erhalten. In der Stadt verfiel ein ganzes Viertel der Abrissramme. Warum auch nicht? 25.000 Einwohner, so viel wie 1960, brauchen weniger Platz. Noch jeder Glut war die Asche sicher.
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