1957: Funkel-Baby

Zeitgeschichte Der Regisseur Konrad Wolf beginnt mit den Dreharbeiten für seinen DEFA-Spielfilm „Sonnensucher“ über die Wismut und den DDR-Uran-Bergbau. Ein heikles Thema
Ausgabe 18/2017

Schmutzig trüb graut der Tag im sächsischen Felsach, dem Wismut-Kaff, als der Zug mit den Zwangsverpflichteten aus Berlin einrollt. Frühjahr 1950, Emmi Jahnke geht im Menschenstrom nicht unter, so sehr der sie auch mitreißt. Sie muss heftig rudern, um oben zu bleiben zwischen all den Abenteurern, Huren und Raufbolden. Gerade noch hat sie mit dem Wismut-Bergmann Jupp König im Ostberliner „Alt-Bayern“ geschwoft und sich bewegter Zeiten erinnert – als Jupp 1934 in Handschellen der Gestapo entkam, auf Emmis Entfesselungskünste angewiesen war, in ihrem Wanderzirkus untertauchte und Emmis Liebeskünste schätzen lernte.

Nach dem Krieg will „Funkel-Baby“, wie Jupp sie nennt, nicht mehr über Land ziehen, um sich durchzuschlagen. Sie lässt Freier bitten, um gut zu leben in karger Zeit. Bis sie Jupp wiedersieht und wieder liebt, bis die Sittenpolizei das „Alt-Bayern“ beehrt und die ganze Gesellschaft in die Wismut verfrachtet. Fortan muss Emmi zusammen mit ihrem Findelkind Lotte Lutz, das mit einem Flüchtlingstreck verwaist aus Ostpreußen kam, auf der Halde Steine schleppen, im kalten Morgenwind, im fahlen Licht. Zum Horn des Hirten wird die Sirene am Schacht. Im Prolog zum Spielfilm Sonnensucher mit seiner an dem Neorealismus angelehnten Schwarz-Weiß-Ästhetik spendet eine verwaschene Sonne wenig Trost, eigentlich gar keinen.

Als vor sechs Jahrzehnten die Dreharbeiten beginnen, hat sich der damals erst 32-jährige Regisseur Konrad Wolf einem riskanten Unterfangen verschrieben. Die Wismut ist in der DDR kein Tabu, aber ein heikles Thema. In den Schächten rings um die Stadt Aue wird im Auftrag einer deutsch-sowjetischen Aktiengesellschaft Uranerz aus dem Berg gebrochen, das als Rohstoff für sowjetische Kernwaffen gebraucht wird, um das Atomwaffenmonopol der USA zu brechen. Das Blitzlicht von Hiroshima soll nicht den Beginn eines amerikanischen Jahrhunderts beleuchtet haben.

In den Revieren der Wismut stoßen Russen und Deutsche aufeinander, die sich sonst nie begegnet wären, nun aber miteinander auskommen müssen. Die sich respektieren oder ignorieren, lieben und hassen. Sie suchen die Sonne im Schacht und im Stein, in grauen und in schwarzen Tagen, und der Geigerzähler zeigt ihnen, ob sie die Sonne gefunden haben. Und wenn er anschlägt, werden sie wissen, die Sonne weiter suchen zu müssen, ein ganzes Leben lang.

Im Vorspann des Films ist zu lesen: „Damals waren die Millionen Gräber zwischen Wolga und Elbe noch nicht gezählt. Doch aus Hass und Misstrauen wurde in den Schächten der Wismut in schwerer gemeinsamer Arbeit Freundschaft ...“ Für Oberst Fedossjew, den sowjetischen Direktor von Felsach, trifft das nicht zu. Für ihn ist die Sonne untergegangen. Danach zu suchen, verwehrt ihm ein krankes Herz, das ihn quält, seit er im Krieg durch deutsche Besatzer die gesamte Familie verloren hat. Fedossjew lässt Beier, den Obersteiger und ehemaligen Wehrmachtsoffizier aus Siebenbürgen, nach Kräften spüren, dass er ihn zwar braucht, um die monatliche Förderquote zu erfüllen, aber ihm nicht vertraut. Weniger düster wirkt die Figur des Grubeningenieurs Sergej, der Lotte Lutz seine Liebe gesteht, indem er in gebrochenem Deutsch von seiner Frau erzählt. „Sie war auch 18, meine Frau, wie du. Wunderbare Augen wie du. Sie hat gemalt, sie suchte immer Licht. Jetzt nicht mehr, sie wurde erschossen, SS, Division „Das Reich“, drittes Infanterieregiment …“

Konrad Wolf, Sohn des Schriftstellers Friedrich Wolf, 1925 im schwäbischen Hechingen geboren, 1933 mit den Eltern emigriert, hat seine Jugend im sowjetischen Exil verbracht und ist im April 1945 in der Uniform eines Leutnants der Roten Armee zurückgekehrt in ein fremdes Land, das ihm keine Heimat mehr ist. Nach dem Studium am berühmten WGIK, der Moskauer Filmhochschule, hat Wolf bis 1957 für die DEFA zwei Filme gedreht, die Komödie Einmal ist keinmal und Lissy über den Irrweg einer jungen Frau, die aus der Nazizeit das Beste herausschlagen will. Nun also das Wagnis mit der Wismut. Über Felsach zu erzählen, über die Frauen und Männer im Berg, heißt für Wolf, sich über die eigene, schwierige Annäherung an das Deutschland im Osten und die schmale Lebensbasis eines frühen Sozialismus klar zu werden. Wie in seinem autobiografischen Streifen Ich war neunzehn über den heimatvertriebenen Heimkehrer Gregor Hecker im April 45, bewegt ihn die Frage, begreifen die Deutschen, welche Schuld sie in der Sowjetunion auf sich geladen haben, was Sühne bedeutet. Dreht Wolf mit Ich war neunzehn seinen persönlichsten, so mit Sonnensucher seinen leidenschaftlichsten Film.

Nur ist das Projekt von Anfang an umstritten. Vermutlich wäre es von der DEFA außer Konrad Wolf kaum einem anderen Regisseur anvertraut worden. Er bürgt mit seiner Vita für die nötige politische Sensibilität, um auf vermintem Gelände unterwegs zu sein. Den Stein des Sisyphus willig zu rollen, ohne von ihm erschlagen zu werden. Schon vor der sogenannten staatlichen Abnahme kommt es zu Kontroversen. Szenen werden kassiert (etwa der nackte Arsch, mit dem einer der Zwangsverpflichteten seine Ankunft in Felsach feiert), andere müssen umgeschrieben, wieder andere nachgedreht werden.

Darunter ist eine Episode unter Tage, als Jupp König aufkeimenden Protest gegen mäßigen Arbeitsschutz abwehrt und an den fünf Fingern seiner Faust aufzählt, was zählt. Für den Moment wird künstlerische Qualität agitatorischer Brachialität geopfert. Jupp fragt – „Wer ist denn Sergej, wer ist denn Fedossjew, wer ist denn die Sowjetunion?“ – und antwortet Finger für Finger. Mit dem Daumen geht es los: „Die Sowjetunion baut den Kommunismus auf. Die Sowjetunion hilft der ganzen Welt im Kampf um den Frieden, klar, die Sowjetmacht verhindert den Dritten Weltkrieg, die sowjetischen Genossen helfen uns beim Aufbau des Sozialismus. Wir und sie, die Arbeitermacht, der Frieden, brauchen Uran. Siehst du, das ist proletarischer Internationalismus.“ Und dann schließt sich die Faust, bildfüllend, markig, stark. Im Jahr 1930 hatte die KPD zur Reichstagswahl mit der Parole für sich geworben: „Fünf Finger hat die Faust, wählt KPD, Liste 5.“ Jupps Zuhörer murmeln und raunen. Einer sagt, du hast recht.

Jupp, gespielt von Erwin Geschonnek, ist bei Wolf Rebell und Revolutionär, Anarchist und Kommunist, eine Gestalt von urwüchsiger plebejischer Kraft und Wahrhaftigkeit. Als er den glücklosen Parteisekretär Weirauch ablösen soll, stellt der eine Bedingung: Brich mit Emmi, dieser anrüchigen Person, sie schadet deinem Leumund. Was folgt, ist eine der eindrücklichsten Szenen, die Wolf inszeniert hat. Jupp verwahrt sich gegen die Sucht, über Menschen zu urteilen, um sie abzuschreiben. „Kennst du Emmi, hast du auch nur ein Wort mit Emmi gesprochen?“ Es kommt ein Apfel ins Bild, den Weirauch pedantisch schält. „Woher nimmst du den Mut zu deiner Funktion, Genosse Weirauch? Seit 1919 bin ich Kommunist – Parteisekretär zu sein, den Mut habe ich heute noch nicht. Dass du ein schlechter Sekretär bist, das sehe ich. Äpfel schälst du, bevor du reinbeißt. Menschen beurteilst du nach der Schale.“ Funktionäre derart bloßzustellen, gilt als Sakrileg. Die Szene wird beanstandet, aber geschluckt.

Zwei Jahre wird nach Drehschluss um das Werk gerungen, bis Michail Perwuchin, sowjetischer Botschafter in der DDR, seine Einsprüche geltend macht: Oberst Fedossjew werde zu autoritär dargestellt, der Ingenieur Sergej durch seine Liebe zu Lotte Lutz hingegen zu privat. Vor allem aber passe der Film nicht zu der sich abzeichnenden weltpolitischen Entspannung, weil der Uran-Abbau vom Westen als Drohung verstanden werden könne. Das Schicksal von Sonnensucher ist besiegelt. Erst 1972 wird der Film in einigen Filmkunsttheatern der DDR gezeigt, ist aber der Zeit entwachsen, für die er gedacht war. Konrad Wolf hadert mit einem Verlust und der Entscheidung, sein Werk unter Verschluss zu nehmen. Es wird so viel verspielt. Zu viel, wie sich Jahrzehnte später zeigen soll.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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