Ein S-Bahn-Zug nach nirgendwo, gestrandet im Niemandsland zwischen Berlin und Berlin, zwischen Treptow im Osten und Neukölln im Westen, einstweilen stillgelegt in der Nacht vom 12. zum 13. August 1961. Am Richtungsanzeiger des Triebwagens ist „Vollring“ zu lesen. Ohne erzwungenen Halt würde die Tour über Sonnenallee, Gesundbrunnen und Bornholmer Straße wieder nach Treptow führen, Fahrtzeit gut eine Stunde. Normalerweise schlucken die gelb-braunen Waggons an einem frühen Sonntagmorgen kaum Fahrgäste. Die wenigen diesmal hören gegen 2.30 Uhr beim Stopp in Treptow die Durchsage: „Bitte alle aussteigen. Dieser Zug endet hier!“ Danach schleichen die vier Wagen noch bis zur Westkurve und dürfen nicht mehr weiter, können weder vor noch zurück. Der Eisenbahnkran auf dem Nachbargleis hebt Schienen aus dem Schotterbett.
Als die DDR ihre bis dahin auch dank einer durchfahrenden S-Bahn offene Grenze nach Westberlin schließt, hat eine Gesamtberliner Stadtbahn jäh ausgesorgt. Und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs haben ihren Anteil daran, dass die Trassen so abrupt wie reibungslos gekappt werden können. Als ab Juli 1945 der Alliierte Kontrollrat auch die in vier Sektoren geteilte Stadt Berlin regiert, werden die Betriebsrechte für die S-Bahn vollständig der Deutschen Reichsbahn übertragen, die 1949 mit Gründung der DDR zum Staatskonzern aufsteigt. Das heißt, Bahnanlagen von den Stellwerken bis zu den Stationen in Westberlin sind als Reichsbahngelände de facto DDR-Hoheitsgebiet. Eisenbahner und Transportpolizei können ein Hausrecht wahrnehmen, ohne dass die Westalliierten oder der Westberliner Senat sie daran hindern.
Es ist diese Enklave des Ostens im Westen, die am 13. August 1961 von Vorteil dabei ist, elf Ost-West-Übergänge im Gesamtnetz schlagartig zu unterbrechen. Als im Spätsommer 1980 S-Bahner in Westberlin während eines Streiks die Stellwerke Halensee und Zoologischer Garten besetzen, rückt DDR-Personal an und räumt. Dietrich Stobbe (SPD), seinerzeit Regierender Bürgermeister im Schöneberger Rathaus, den die Streikenden um Beistand anrufen, spricht von „legitimen Handlungen“. Die Reichsbahn müsse ihre Interessen als Eigentümer durchsetzen. Nicht nur der S-Bahn-, auch der Fernverkehr von und nach Westberlin hatte gelitten. Was das historische Gedächtnis mittlerweile ausblendet: Als die DDR gleich nach dem 13. August 1961 ihr S-Bahn-Mandat gebraucht, um auf Westberliner Bahnhöfen Passierscheine auszugeben, die im Härtefall einen Weg in den Osten ebnen, reagiert der Polizeipräsident von Westberlin mit dem Bescheid, eine solche Praxis habe nichts mit dem S-Bahn-Betrieb zu tun und sei umgehend zu unterlassen. Es waltet die Furcht, der DDR politische Rechte einzuräumen, die sich als indirekte Anerkennung deuten lassen. Noch gilt die Hallstein-Doktrin und damit der Alleinvertretungsanspruch des westdeutschen Staates, der sich für Westberlin zuständig fühlt – humanitäre Belange haben da nichts zu suchen.
Erst im Dezember 1963 wird es ein erstes Passierscheinabkommen geben, das für die DDR kein Gesandter des Ostberliner Magistrats, sondern ein Staatssekretär unterschreibt. Womit zugestanden ist, woran sich bis 1990 nichts ändern wird. Die DDR-Regierung und der Senat verhandeln direkt über Westberlin, während die Alliierten als Schirmherren Kontrollrechte wahren und Zurückhaltung üben. Ihr letzter gemeinsamer Kraftakt gelingt im September 1971 mit dem Vierseitigen Abkommen, ein von der UdSSR, Frankreich, Großbritannien und den USA besiegeltes Agreement, gleichsam ein exemplarischer Ost-West-Kompromiss, der jedem zugesteht, was er haben soll, um das Gesicht zu wahren.
Die Regierung in Bonn muss schlucken, dass Westberlin weder ihr Staatsgebiet ist noch von ihr regiert werden darf, die in Ostberlin sich damit abfinden, dass ungeachtet dessen der westdeutsche Staat und die Inselstadt besondere „Bindungen“ unterhalten und Anspruch auf störungsfreie, zudem ausgebaute Transitwege haben. Die Mauer, der Pressverband gegen ein drohendes Ausbluten der DDR im Sommer vor 60 Jahren, wird als Grenze stillschweigend akzeptiert. Bei der S-Bahn mit ihren zwei Betriebssystemen in der geteilten Stadt unter dem einen (Reichsbahn-)Dach bleibt alles wie gehabt.
Im Herbst 1971 ist zwar der ausgebremste Vollringzug auf provisorisch verlegten Gleisen längst in den Osten zurückgeschleppt, im Westen hingegen hat die Stadtbahn ihr Kreuz zu tragen. Sie wird durch den Bau paralleler U-Bahn-Linien ausmanövriert und durch Senat, DGB, Parteien und Medien nach Kräften boykottiert. Was vorzugsweise, aber nicht nur aus politischen Gründen geschieht. Wie die 1967 eingestellte Straßenbahn kommt auch die S-Bahn einer aus heutiger Sicht fatalen Verkehrsagenda in die Quere, die Autoschneisen durch eine buchstäblich überrollte Stadtlandschaft schlägt und im Kreislauf-Stillstand der Rushhour nach Vollendung strebt.
Zuweilen patrouillieren in jenen Jahren vor den S-Bahnhöfen Boykott-Agitatoren, die stets das eine Schild zum Himmel halten: „Wer S-Bahn fährt, hilft Ulbricht!“ So wird es zusehends aussichtsloser, den Teufelskreis des Niedergangs zu durchbrechen, wenn die Züge kürzer und die Zeittakte größer werden. Je mehr Fahrgäste ausbleiben, desto stärker schwinden die Einnahmen, desto weniger kann eine devisenklamme Reichsbahn in Erhalt, Service oder die Bezahlung ihrer Westberliner Bediensteten investieren, Letzteres der Auslöser für besagten Streik im September 1980.
Als der Ausstand nach einer Woche der ausgestorbenen Bahnhöfe endet, folgen Jahre der toten Bahnhöfe. Die Reichsbahn bedenkt das Westberliner Netz mit einem Aderlass, der drei Rumpfstrecken übriglässt, darunter den Vier-Stationen-Transfer zwischen Friedrichstraße und Zoologischer Garten für reisefreudige DDR-Rentner. An den Stationen der legendären Wannsee- oder der Siemens-Bahn aber wachsen Gras und Feldblumen, rosten die Gitter am Schultheiss-Kiosk, verfallen die Dächer von Bahnhöfen, deren kunstvolle Verglasung an Gewächshäuser erinnert.
Wie die Stadtbahn in den 1980er Jahren ein Schattendasein fristet, wechselt Westberlin vom Frontstadt-Fieber zu einer geruhsameren Existenz an der Peripherie des Ost-West-Konflikts und im Schatten der Mauer. Die Überzeugung, deutsche Hauptstadt in einer von der Geschichte auferlegten Warteschleife zu sein, droht Schaden zu nehmen. Die Bevölkerung schrumpft, die Industrie wandert in einem Maße ab, dass nach 1970 in nur einem Jahrzehnt knapp ein Drittel der Arbeitsplätze verschwindet. Doch wird, was an ökonomischer Substanz verloren geht, durch die „Berlin-Förderung des Bundes“ kompensiert.
Eine Reaktion auf den unverkennbaren Abstieg einer Metropole ist die „Berlin-Initiative der Westmächte“ vom 29. Dezember 1987. Die USA, Frankreich und Großbritannien regen an, dass sich Ost- und Westberlin gemeinsam bewerben, um die Olympischen Sommerspiele 2004 auszurichten. Sie beteuern, die Inselstadt habe das Zeug zum Luftknoten, liege sie doch auf einer West-Ost-Achse, Direktflüge nach Moskau, Peking und Tokio böten sich an. Zugleich sollte der Messe- und Konferenzort reüssieren und die DDR-Kapitale als Partner gewinnen. Egon Bahrs Mantra „Wandel durch Annäherung“, ergänzt um die Variante „Wandel durch Öffnung“. Dreimal treffen sich in den Jahren 1987/88 Erich Honecker und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) in Ostberlin, direkt verhandeln DDR-Außenhandelsminister Beil (SED) und Wirtschaftssenator Pieroth (CDU). Die DDR gibt zu verstehen, dass sie kein Interesse hat, Westberlin aus den „Bindungen“ mit der BRD herauszukatapultieren. Plötzlich erscheint vieles möglich, wovon auch die heftig verstümmelte S-Bahn profitiert, als die Westberliner BVG die Reichsbahn 1984 von einer Bürde befreit, die nurmehr als schwere Last zu schultern war. Aus seinem Dämmerzustand erlöst wird dieser Teil der Stadtbahn freilich erst nach 1990. Bis dahin wächst das Gras.
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