Je grausamer er um sich schlägt, desto wehrloser ist dieser Rufus Scott. Das wissen seine Freunde. Und weil sie das wissen, können sie ihn nicht retten. Sie lassen ihn einfach ziehen und wollen ihn erst vermissen, wenn er unauffindbar sein wird. Gerade noch ein gefeierter Musiker im New York der späten 1950er Jahre mit Auftritten in den Jazzclubs von Greenwich Village und Brooklyn, taumelt der junge Afroamerikaner einsam und von Verzweiflung betäubt durch die nächtliche, novemberkalte, endlose Stadt. Es ist ihm verwehrt, kein Ziel zu haben. Irgendwann taucht das Ungetüm der George-Washington-Brücke vor ihm auf. „In gedämpfter Ferne lagen die Lichter der Jersey-Küste, und hier und da flammte eine Neonreklame auf, die irgendetwas anpries ... Er wusste, die Qual würde nie wieder enden. Nie wieder konnte er in die Stadt zurückkehren.“
Die Summe der vielen Lebenslügen, die Überlebenslügen gewesen sind, treibt Rufus in den Wahnsinn einer befreienden Wahrheit: Man muss fliehen, um sich selbst zu entkommen. Und man muss es hier tun, auf dieser Brücke, wo sich Amerika so monströs und erschlagend aufspielt. Es gibt nichts mehr zu sagen, weil noch so viel zu sagen wäre.
In seinem Ende 1962 erschienenen Roman Eine andere Welt hat der afroamerikanische Schriftsteller James Baldwin (1924-1987) seinen Helden früh einem tragischen Schicksal ausgeliefert. Das erste Kapitel endet mit dem tödlichen Sprung in den Hudson. Zwar ist bis dahin die unmittelbare Vorgeschichte des Suizids – Rufus’ gescheiterte Liebe zu dem weißen Mädchen Leona – erzählt, doch erst, als das Unwiderrufliche geschehen ist, werden Verwandte, Freunde und Geliebte des Toten wie Kronzeugen für das Unaufhaltbare eines zugrunde gehenden Lebens bemüht: Rufus’ Schwester Ida, der weiße Freund und angehende Schriftsteller Vivaldo, der etablierte Autor Richard Silenski, dem der Erfolg und die untadlige liberale Gesinnung so zu Kopf steigen, dass seine Ehe daran zerbricht. Schließlich der Schauspieler Eric Moore, der aus Frankreich wegen eines Engagements am Broadway nach New York und damit dorthin zurückkehrt, wo er für kurze Zeit der Geliebte von Rufus war. Und wo beide sich fragten: Wie kannst du leben, wenn du nicht lieben kannst? Wie kannst du leben, wenn du liebst? Und wozu führen diese Fragen, wenn sich der schwarze Rufus und der weiße Eric begegnen, die schwarze Ida und der weiße Vivaldo, die weiße Leona und der schwarze Rufus? Werden Identitäten beschworen, bewahrt oder zerstört? Leona aus dem Staat Georgia liebt Rufus hingebungsvoll und sehnt sich danach, von ihm ebenso geliebt zu werden. Eines Tages sagt sie in so ahnungsloser wie argloser Unschuld, es sei doch „nichts Schlimmes daran, ein Farbiger zu sein“. Ist es aber, wenn man aus den Rattenlöchern von Harlem kommt, die zuverlässig zum Himmel stinken, durch trübe Küchenfenster auf die Feuerleitern vom Nachbarblock stiert, religiöser Inbrunst verfällt und sich einbildet, wer vegetiert, statt zu existieren, der gehorcht einem Gottesurteil. Es willig anzunehmen, ist ein Zeichen von Stolz und Selbstbehauptung.
Was ist schlimm daran, ein Farbiger zu sein? Alles! Nichts? Wo Leona Trost spenden will, hört Rufus fehlendes Mitgefühl heraus. Weil das von Leona ausgeht, ausgerechnet von ihr, schlägt er um sich, um den Stachel des Missverständnisses herauszureißen. Er kann es nicht ertragen, dass sich Leona wehrt, und prügelt umso hemmungsloser auf sie ein. Als die Misshandelte in einer Klinik landet, erweist die sich als Nervenheilanstalt, bis die Familie aus dem Süden anreist, sie abholt und heimholt und ihr eintrichtert: Verlauf dich nie wieder in diese andere Welt! Kehre niemals dorthin zurück, wo jemand wie Rufus’ Schwester dich eine „scheußliche nymphomanische kleine Hure“ nennt, die „einen Negermann zwischen die Klauen gekriegt“ und so weit gebracht hat, dass er nicht mehr arbeiten konnte.
Und so steht Rufus auf der Washington-Brücke, stemmt sich mit den Händen auf das Geländer, stemmt sich, so hoch er kann, und lehnt sich weit vornüber. „Der Wind zerrte an ihm, riss ihn an Kopf und Schultern, während unablässig etwas in ihm schrie: Warum? Warum? … Mag’s sein denn, du kotzdreckiger, gottallmächtiger Lump, ich komme zu dir.“ Baldwin beschreibt Todessehnsucht als Todesmut. Er billigt Rufus zu, bei so vielen unüberschreitbaren Grenzen in deinem Leben sollte diese allerletzte überschreitbar sein. Das immerhin hast du verdient. Aber musst du deinem Land einen Tod schenken, der so ganz nach seinem Geschmack ist?
Als der Roman 1962 abgeschlossen wird, hat der Autor mit Gehe hin und verkünde es vom Berge bereits ein Buch der Jugenderinnerungen vorgelegt, dazu die faszinierende Novelle Giovannis Zimmer verfasst, um die eigene Homosexualität zu reflektieren. Noch fühlt er sich dem Milieu seiner Herkunft verhaftet. Die Familie, die Kirche und Kirchengemeinden in Harlem werden als Refugien und Identitätsstifter der anderen, einer zuweilen hermetischen Welt begriffen. In einer die Rassen trennenden, oft rassistischem Wahn verfallenden Gesellschaft kann diese Welt eine Bastion sein. Eben deshalb auch ein Fluch, der Menschen wie Rufus Scott verführt, in Einsamkeit und die ewige Qual zu fliehen. Wohl dem, der sich nicht einmauert.
Paris habe ihn von der Wut auf Amerika befreit
James Baldwin will das unbedingt vermeiden. Im November 1948 riskiert er den Abschied von New York, um nach Frankreich zu gehen. Ihn ermutigt die Überzeugung, in Europa werde ihm nichts Schlimmeres als in den USA widerfahren. Er flieht vor borniertem Rassismus wie der Angst, die eigenen Leute irgendwann zu verachten, weil sie Los und Last des Parias mit allzu großer Demut wie eine Monstranz vor sich her tragen. Was ihn besonders stört, ist der Glaube an die Exklusivität einer schwarzen Kultur, die das Ghetto braucht, um sich einrichten zu können.
Der Abstand zu Amerika hilft Baldwin, künstlerische und sexuelle Identität auszuloten, ohne Rücksicht auf die Verletzbarkeit der afroamerikanischen Community nehmen zu müssen, den Sandkasten zu Hause. Paris habe ihn von der Wut auf Amerika befreit, schreibt er im Essayband Nobody Knows My Name. Er habe begriffen, Identität sei ohne den Gewinn an persönlicher Integrität und den Mut zur Individualität nichts wert. Offenbar kann Baldwin in Frankreich unbelasteter schreiben, weil er sich nicht mehr darauf festgelegt fühlt, in seiner Literatur das bessere Ich des Afroamerikaners herauszustellen, um einem von Weißen erzeugten Bild des hässlichen Farbigen zu widersprechen. Er lässt Rufus sterben, um über ihn sagen zu können: Dieser Junge war kein zum Untergang verurteiltes Wrack, kein Opfer des Rassismus, sondern des Umgangs mit seiner Rassenzugehörigkeit. Seine seelische Not, seine sexuelle Präsenz, seine Selbstgerechtigkeit, seine Gewaltausbrüche, sein Künstlertum – nichts davon musste Rufus so zusetzen, dass ihn ein „kotzdreckiger gottallmächtiger Lump“ zwischen die Finger kriegte.
Kurze Zeit, nachdem Eine andere Welt erschienen ist, und Baldwin das Buch in den USA vorstellt, bittet ihn Robert Kennedy, damals Justizminister im Kabinett des Präsidentenbruders, zum Tee. Es soll eine kontrovers verlaufende Begegnung gewesen sein. Verbürgt ist allerdings nur, dass der Gastgeber auf den versöhnlichen Ausklang und die Bemerkung bedacht war: Warum sollte nicht in 40 Jahren ein Schwarzer der Präsident dieses Landes sein? Das klingt nach Gunsterweis oder Gnadenakt, den man sich nicht gleich, aber irgendwann durchaus leisten werde. Kennedy wagt eine nonchalante Prophetie, die er sich als freisinniger Intellektueller und Matador des Fortschritts schuldig glaubt. Was ist schlimm daran, ein Farbiger zu sein?
Baldwin soll Kennedys Generosität mit einem Wutausbruch quittiert und seiner Wege gegangen sein. Sie führen ihn nach 1968, dem Jahr des tödlichen Anschlags auf Martin Luther King, wieder nach Frankreich, in die „Selbstexilierung“, wie er schreibt. Bei der soll es bleiben bis zu seinem Tod Ende 1987.
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