Man solle nicht glauben, es gäbe „übergenug von diesem seltsamen Stoff Leben, als könnte er nie zu Ende gehen“, mahnt die Schriftstellerin Christa Wolf in ihrem 1963 erschienenen Roman Der geteilte Himmel. In der DDR kann man etwas durchatmen um diese Zeit. Seit dem 13. August 1961 gibt es mit der nach Westen hin geschlossenen Grenze einen Pressverband gegen das Ausbluten. Es werde nun der Aufbau der neuen Gesellschaft störungsfreier vorangehen als in den Jahren zuvor, heißt es. Das Land könne zu sich selbst finden und offener mit den eigenen Angelegenheiten umgehen, statt sich im Fegefeuer des Kalten Krieges aufzureiben. Das Brot der frühen Jahre hat zwar gereicht, aber nicht geschmeckt. Wie lange kann es gut gehen, wenn eine Utopie zu viel von dem schuldig bleibt, was sie versprochen hat? Wann lässt sich im Sozialismus mehr anfangen „mit diesem seltsamen Stoff Leben“? Würde künftig der Umgang mit Kultur und Kunst gelassener und toleranter sein, die DDR in Romanen, Filmen, Theaterstücken und Gemälden nach sich suchen können, um mehr über sich und ihre inneren Widersprüche zu erfahren?
„Jetzt haben wir eine ganz andere Lage. Vor zwei Jahren war die Grenze offen. Und von drüben wurde jede Schwäche, jede Unsicherheit ausgenutzt, uns zu provozieren und Unruhe hereinzutragen. Jeder Feind war für die ein Brückenkopf. Sie versuchen es natürlich weiter, aber wie stehen wir heute da“, beschwört der Richter Paul Deister seine Geliebte, die 19-jährige Maria Morzeck, im Spielfilm Das Kaninchen bin ich, den der Regisseur Kurt Maetzig 1965 für die DEFA dreht. Maria ist die Schwester von Dieter Morzeck, den Deister 1961 – die Grenze steht noch offen – wegen „staatsgefährdender Hetze“ zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt hat. Erst danach beginnt seine Affäre mit Maria, die sich ihm nicht nähert, um den Richter ihres Bruders gnädig zu stimmen. Als beide schon Monate zusammen sind, will sie nur eines wissen: Warum wurde Dieter durch den Mann, den sie liebt, so hart bestraft? Paul Deister soll einfach die Wahrheit sagen.
Als Blutmegäre der Revolution verschrien, hatte Rosa Luxemburg Anfang 1919 – die Niederlage des Spartakusbundes vor Augen – in einem ihrer letzten Artikel für die Rote Fahne geschrieben, „weitherzigste Menschlichkeit, das allein ist der wahre Odem des Sozialismus“. Auch wenn „eine Welt umgestürzt werden muss“, sei „jede Träne, die geweint worden ist, eine Anklage“. Draußen schießen sie sich ums Berliner Zeitungsviertel und drinnen empfiehlt jemand der Revolution unbedingte Menschlichkeit. Doch, die müsse es geben, ist Luxemburg überzeugt, sonst werde es nicht gelingen, den Menschen davon zu erlösen, ein erniedrigtes und geknechtetes Wesen zu sein.
Man kann dem frühen DDR-Sozialismus nicht bestreiten, an diese Vision geglaubt zu haben. Zu prägen vermochte sie ihn nur wenig, was nicht allein am Kalten Krieg lag. In der Kunst fehlte eine Ästhetik des Aufbruchs, mit der die Ästhetik des Widerstandes gegen die NS-Barbarei erkennbar fortgeschrieben wurde. Was es dazu brauchte, waren Mut zur Wahrheit, Freundlichkeit und Vertrauen. „Anmut sparet nicht noch Mühe, Leidenschaft nicht noch Verstand“, beginnt Bertolt Brecht 1950 das Gedicht Kinderhymne. Einem seiner kongenialen künstlerischen Partner, dem Komponisten Hanns Eisler, widerfährt anderes. Ihn trifft eine politische Rigorosität, die Macht und Dogma, nicht Macht und Geist zu vereinen trachtet.
Ausgerechnet Eisler, der 1947 im US-Exil wie ein Angeklagter vor dem Untersuchungsausschuss für unamerikanische Tätigkeiten gestanden und Johannes R. Bechers Auferstanden aus Ruinen für die DDR-Nationalhymne vertont hat, bleibt 1951 die Aufführung seiner Oper Johann Faustus verwehrt. Es sei künstlerischer Formalismus, was er auf die Bühne bringen wolle, setzen ihm SED-Kulturpolitiker wie Alexander Abusch zu. Weil Eisler den Faust nicht im Sinne Goethes als positiven Mythos begreifen will, sondern als Renegaten, der die Ideen des Bauernkrieges von 1525 verrät, wird ihm Geschichtspessimismus unterstellt. Warum habe er sich ausgerechnet für volksfremde Heldengestalten entschieden? Damit würden die weltanschaulichen Bedürfnisse der Arbeiterklasse in der DDR negiert! Kunst im Dienst der Selbstvergewisserung? Zur historischen Absolution? Ist das euer Ernst? – hätte Eisler gegenfragen können. Er verzichtet darauf, zieht die Oper zurück und klagt Ende 1953 in einem Brief an das SED-Zentralkomitee. „Nach der Faustus-Attacke merkte ich, dass mir jeder Impuls, noch Musik zu schreiben, abhanden gekommen war. So kam ich in einen Zustand tiefster Depression, wie ich sie kaum jemals erfahren habe ...“ Der Mensch kein geknechtetes Wesen mehr, sondern Herr seiner selbst? Oder musste auch der Künstler – zumal der vom Sozialismus überzeugte wie Eisler – politische Einsicht über elementare Erkenntnisfreude stellen, notfalls bis zur Selbstverleugnung?
Zwischen Eiszeit und Kommunismus
Heiner Müller hat für die Defizite der DDR-Gesellschaft in seinem Stück Der Bau (1965 in der DDR-Zeitschrift Sinn und Form als Vorabdruck zu lesen) eine Metapher gefunden, die ihm auf dem XI. Plenum des SED-Zentralkomitees im Dezember 1965 Unmut und Rüge eintragen soll. Müller sieht die DDR als „Fähre zwischen Eiszeit und Kommunismus“. Was so viel heißt wie – die Utopie ist das rettende Ufer, die Wirklichkeit eine Arche Noah auf der Fahrt durch vorzeitliche Unwirtlichkeit. Für Erich Honecker, der die XI. ZK-Tagung eröffnet, zeugt ein solches Sinnbild von „spießbürgerlichem Skeptizismus“ und „Dekadenz“. Davon seien in der DDR leider einige Schriftsteller und Regisseure erfasst. Es gebe eine „Kultur des Zweifelns“. Parteichef Walter Ulbricht sekundiert, schöpferische Freiheit werde so verstanden, dass der Staat „auf jede Leitungstätigkeit verzichte und Freiheit für Nihilismus, Halbanarchismus, Pornografie“ gewähre. Es sind rüde, teils denunziatorische Töne, die auf dem XI. Plenum angeschlagen werden. Derart intoniert, klingen Werturteile wie Bannflüche. Als sollte es nach dem Verriss kein Versöhnen mehr geben. Christa Wolf, die als Kandidatin des ZK ums Wort bittet, warnt davor, Künstler in die Defensive zu drängen und eine Semantik des Entweder-Oder zu pflegen. Sie wird überhört. Das Raster – wer nicht mit uns, der ist gegen uns – wird zu Lebzeiten der DDR stets damit gerechtfertigt, dass sich bei künstlerischen Konflikten letztlich auch die Machtfrage stelle. Ende Dezember 1965, im Schatten der Mauer, lautet sie nicht mehr: wir oder der Klassenfeind, sondern wir oder ihr, die Parteifeinde.
In einer der letzten Szenen von Das Kaninchen bin ich ist Paul Deister Maria gegenüber offenherziger als sonst. „Willst du wissen, warum ich deinen Bruder so streng verurteilt habe? Ich wollte besser sein als der Staatsanwalt. Das Gesetz sieht eine Mindeststrafe vor, aber ich konnte ihn auch schärfer verurteilen, wenn ich alles in größere Zusammenhänge stellte: Konterrevolution, Sabotage, Diversion. Nach dem Prozess war ich bekannt für Härte und Prinzipienfestigkeit.“
Nun aber, seit die Grenze dicht ist, hat sich durch einen Rechtshilfeerlass der Wind gedreht. Deister will Dieter Morzecks Begnadigung durchsetzen und zeigen, wie gut er die Zeichen der Zeit verstanden hat, der scharfe Hund als geläuterter Liberaler. „Und dann sollst du mal sehen, was die Genossen für Augen machen. Mich können sie nicht überrollen.“ Maria ist fassungslos: „Du bist ein Schwein!“ – Damit ist viel und alles gesagt. Der Jurist Deister, als Richter Teil der Staatsmacht, offenbart die degenerierte Moral des Karrieristen, wie sie der DDR-Justizapparat nicht verhindert, sondern ermöglicht. Maetzigs Werk, das dem Sozialismus ankreidet, was ihm schadet, wird auf dem XI. Plenum vorgeführt und als Zumutung angefeindet. Die DEFA zieht den Streifen schließlich zurück wie andere Spielfilme auch. „Die Luft legte sich schwer auf uns, und das Wasser schmeckte uns bitter“, las man im Geteilten Himmel.
Illustrationen zu dieser Ausgabe
Die Bilder der Ausgabe sind illustrierte Zukunftsvisionen von Klaus Bürgle aus dem letzten Jahrhundert: „90 Prozent waren Forscherwissen, das andere Fantasie und Konstruktion.“ Mehr über den extraterrestrischen Grafiker erfahren Sie im Beitrag von Christine Käppeler
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