Da irrt einer herum und schlägt die Zeit tot, weil sie sonst ihn totzuschlagen droht. Kurt Scholz, gegen seinen Willen pensionierter Buchhalter, wandert an seinem 65. Geburtstag ziellos durch die Stadt, studiert Zeitungsannoncen und Geschäftsauslagen, nimmt das billigste Ticket für zwei Stunden Kino. Und es ist erst Mittag.Die Firma hat seinen Antrag auf Weiterarbeit verworfen – so sehr er auch mit jeder Faser an seinem Schreibtisch hängt, auf den Stichtag genau muss er gehen. Die Fahrt aufs Abstellgleis beginnt, sieh zu, wie du mit dem Rest deiner Tage fertig wirst. Scholz schämt sich, seiner Familie den erzwungenen Abschied einzugestehen. Besonders seine Frau Käthe ist fest davon überzeugt, dass der Betrieb eine grandiose Geburtstagsfeier ausrichtet, weil man ihren Mann, diesen unersetzlichen Mitarbeiter, ungemein schätzt und halten will. Als sich Scholz gegen Abend endlich nach Hause wagt, haben sie für ihn die Joseph-Schmidt-Platte aufgelegt. „Heut’ ist der schönste Tag in meinem Leben.“
Der um seine Selbstachtung gebrachte Familienvater steht für eine der berührendsten Episoden aus dem mehrteiligen Fernsehspiel Die Unverbesserlichen in der Regie von Claus Peter Witt. Eine Familiensaga, die Sozialgeschichte der in ihre frühen Jahre gekommenen freien Marktwirtschaft erzählt. Ausgestrahlt werden sieben Kapitel von jeweils etwa 120 Minuten, um ein Jahrzehnt auszuschreiten und dabei nie das Kernpersonal zu wechseln: die Eheleute Kurt und Käthe Scholz, den Sohn Rudi, die beiden Töchter Doris und Lore, dazu Käthes über 70-jährige Mutter Elisabeth Köpcke.
Die erste Folge läuft 1965 im ARD-Abendprogramm, der Epilog sechs Jahre später. Schauplatz ist Westberlin in den 1960ern, gedreht wird freilich mehr in Hamburg, da die Federführung beim NDR liegt. Mit der dortigen Redaktion Fernsehspiel hat der Brecht-Schüler, Regisseur, Autor und Schauspieler Egon Monk Einmaliges geschaffen. Seine Abteilung erweist sich als Glücksfall für ein Jahrzehnt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, bevor der Wahn des Outsourcings die Anstalten künstlerisch austrocknen lässt. Für seine Projekte gewinnt Monk Filmemacher und Drehbuchschreiber wie Eberhard Fechner, Dieter Meichsner, Robert Stromberger oder eben Claus Peter Witt. Es gelingen faszinierende Literaturverfilmungen wie Bauern, Bonzen, Bomben nach Hans Falladas gleichnamigem Roman, dem 1929 geschriebenen prophetischen Abgesang auf die Weimarer Republik. Die Gemüter erregen von Egon Monk inszenierte Gesellschaftsdramen wie Schlachtvieh, mit dem der Schriftsteller Christian Geissler die Wiederaufrüstung als absurde Verhöhnung deutscher Geschichte angreift.
Das Bekenntnis zu einem realistischen Duktus bei den unter Monks Verantwortung produzierten Fernsehspielen erweckt zuweilen den Eindruck, als sollte Brechts Theatertheorie im Fernsehen erprobt werden. Man blättert in Geschichten, deren Gesellschaftskritik nur deshalb angenommen wird, weil sie unterhält. So erteilt das Format Social TV mit den Unverbesserlichen keinen szenischen Anschauungsunterricht und meidet Ansprachen vom didaktischen Balkon, sondern entwirft ein zeitgetreues familiäres Sittenbild. Kleine Leute wie die Scholzens werden respektiert und nicht als Kleinbürger denunziert, auch wenn sie das in einer bekömmlichen Weise sein mögen. Der Regie und Schauspielern wie Inge Meysel (Käthe) und Joseph Offenbach (Kurt) gelingen Figuren, die nie nur Typen und nie nur Charaktere sind. Worauf sich der Zuschauer bei diesen Unverbesserlichen verlassen kann, das ist ihr trotziger Stolz, der sie daran hindert, sich eines Besseren belehren zu lassen. Käthe Scholz hat einen Ursinn für Gerechtigkeit, ist hilfsbereit und gütig, braucht die rechthaberische Aufwallung und spielt gern Illusionstheater.
Nicht nur, dass sie in ihrem Mann lieber den Fast-Prokuristen statt Nur-Buchhalter sieht und sich schwer täuscht, als Pensionär hält sie ihn gar für ein Finanzgenie. Er hat 20.000 DM, angeblich hoch verzinst, bei einem Immobilienmakler angelegt und ist damit einem betrügerischen Hasardeur zum Opfer gefallen. Der nimmt den Scholzens, was sie 30 Jahre lang gespart haben, um im Alter davon zehren zu können. Aus, vorbei, nie wieder, für die Kleingläubiger fällt beim großen Bankrott nichts ab.
Schon vor dieser Heimsuchung liegt zum Monatsende kein Rinderfilet in Champignonsauce auf den Tellern, gibt es stattdessen Pfefferminztee und Kartoffelsalat ohne Würstchen. Der Plot zitiert die sozialen Zumutungen einer Gesellschaft, die darauf angelegt ist, Kausalitäten anders erscheinen lassen, als sie tatsächlich sind. Immer wieder – wenn auch nie ganz schuldlos – muss die Familie Scholz erleben, wie sich Wohlstandsversprechen in Wohlgefallen auflösen. Als für Elisabeth Köpcke, die Mutter von Käthe, ein Platz im Seniorenheim gesucht wird, stellt sich heraus, dass dieser letzte Umzug sozialen Verlust und seelischen Notstand verheißen kann. Das gewünschte Einzelzimmer gibt es in privaten Residenzen sehr wohl, aber für 650 bis 700 DM, was sich die alte Dame mit 260 DM Rente und die Scholzens mit Kurts Pension von 800 DM niemals leisten können. Es bleibt nur der Weg zur Fürsorge und ins städtische Heim, in dem Dreibettzimmer üblich, Zweibettzimmer die Ausnahme und Einbettzimmer Asthmatikern vorbehalten sind. Monatlich 285 DM für Unterbringung sowie Fürsorge sind dort fällig und für die Familie nur verkraftbar, weil das Sozialamt zuschießt.
„Weißt du, Käthe, was das Schlimmste daran ist, dass man auf dies alles erst kommt, wenn man selbst davon betroffen ist, wenn’s an die eigene Haut geht. Heute ist es deine Mutter, morgen sind wir’s“, gesteht Kurt seiner Frau. Und greift vor und hat mehr recht, als ihm lieb sein kann. Fast auf den Knien müssen beide im letzten Teil der Serie darum betteln, in eine kleinere, vor allem bezahlbare Wohnung ziehen zu können, als sie ihr bisheriges Domizil wegen der erhöhten Miete gekündigt haben. Vor einem Rauswurf auf die Straße rettet sie nur die zunächst verschmähte Hilfe eines Westberliner Stararchitekten, mit dem Tochter Doris inzwischen verheiratet ist.
Von deren Aufstieg zur Kosmetikerin mit Studio und Cocktailpartys im Hilton kann der Bruder Rudi nur träumen. Zunächst noch als Amateur Mittelstürmer eines Regionalliga-klubs, will er die Profikarriere, hat gar einen Vorvertrag mit Servette Genf in der Tasche und bald darauf eine gerissene Achillessehne. Operation und Reha führen zu der bitteren Gewissheit, nie wieder spielen zu können. Rudis Verein, dem er die Absicht zum Wechsel verschwieg, lässt ihn fallen wie eine heiße Kartoffel. Die Berufsgenossenschaft spendiert einen finanziellen Ausgleich, der nicht einmal die Behandlungskosten deckt, dazu den Bescheid: Wer nicht mehr kicken kann, ist kein Invalide, sondern arbeitsfähig. Rudi verkauft schließlich frisierte Autos an arglose Kunden und scheitert, versucht sich im Ruhrgebiet als Trainer und scheitert, alles getreu dem Familienfluch der Unverbesserlichen: Wo Illusionen walten, ist Desillusionierung nie fern.
Was auch immer geschieht in dieser Geschichte, gebündelt, aus- und wieder aufgelöst werden die Handlungsstränge an diesem einen, stets wiederkehrenden Schauplatz: der Wohnung von Kurt und Käthe Scholz. Der Zuschauer ist gewöhnt an den Blick auf Flur und Tür, an der „Omimi“ hektisch läutet, wenn sie sich eine Auszeit vom Heim nimmt, an den großen Esstisch im Wohnzimmer mit der Jugendstil-Anrichte dahinter, an das Arbeitszimmer, in dem Kurt Scholz alte Radios repariert hat, um sein Rentnerdasein zu vergessen. Im letzten Teil werden diese Räume immer kahler und verlieren ihr Gesicht. Der Ausbau zum Gymnastikatelier und die Aussicht auf eine Gewerbemiete reißen Zimmerwände ein. Die Fabel suggeriert, dieses Refugium, auf das in der Familie rechnen konnte, wer in Not war, wird nun nicht mehr gebraucht. Als sei der Glaube daran verloren gegangen, was bis dahin alles erzählt worden ist.
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