1973: Auto muss sein

Zeitgeschichte Das WDR-Dokumentarspiel „Smog“ simuliert eine Umweltkatastrophe im Ruhrgebiet mit desaströsen Folgen. Autor Wolfgang Menge ist damit der Geschichte weit voraus
Ausgabe 37/2018

Die Wolken im Fernsehen lassen sich mit keinem Besen mehr wegschieben, der Nebel verschüttet Straßen, Fußballstadien, Autobahnen, Hochöfen und Menschen. Der Mond verblutet unsichtbar. Wer das miterlebt, ist alarmiert, um nicht zu sagen entsetzt. Beim WDR in Köln gehen Anrufe von Zuschauern ein, ob die Lage wirklich so schlimm sei. Darf man am nächsten Tag noch ins Auto steigen und zur Arbeit düsen? Werden Vorräte und Schutzmasken gebraucht. Sollten Kinder besser in der Wohnung bleiben? Was ist geschehen?

Das Fernsehen zeigt Sondersendungen des Fernsehens über eine schwere Umweltkatastrophe im Ruhrgebiet. Eine ungünstige Wetterlage und die hohe Luftverschmutzung haben zu einem Smog geführt, der sich stetig verschlimmert. Lautsprecherwagen fahren durch Duisburg. „Wir haben Smogalarm in Nordrhein-Westfalen, Alarmstufe I. An mehreren Messstationen in unserem Land ist die zulässige Menge an Schwefeldioxid überschritten. Bitte schließen Sie Türen und Fenster. Vermeiden Sie jeden unnötigen Aufenthalt im Freien.“ Auf der Straße ringen Menschen nach Luft, sterben im Rettungswagen oder auf den Fluren überfüllter Krankenhäuser, in denen ein Bett hinter dem anderen steht.

Mit Episoden wie diesen wird die fiktive Chronik einer fiktiven Luftpest erzählt, die der WDR vor 45 Jahren als Dokumentarspiel unter dem Titel Smog in der ARD ausstrahlt. Viele Zuschauer glauben, was sie sehen, weil absolut glaubhaft ist, was Autor Wolfgang Menge und Regisseur Wolfgang Petersen als Katastrophenszenario nachzeichnen. Anfang der 1970er Jahre regnen auf die gut 18 Millionen Bürger Nordrhein-Westfalens wegen der enormen Industrie- und Verkehrsdichte jährlich 210.000 Tonnen Schadstoffe herab. Aber nicht allein deshalb überzeugt das simulierte Inferno einer selbst verschuldeten Heimsuchung. Im Dezember 1962 gab es im Ruhrgebiet einen schweren Smog, dem 156 Menschen – zumeist waren sie herzkrank oder litten an anderen Vorerkrankungen – zum Opfer fielen.

Wolfgang Menge lässt einen Fernsehmoderator sagen: „Nach hundertfachen Warnungen ist das eingetreten, was immer befürchtet, aber in Wirklichkeit nie erwartet wurde. Nun wird es sich erweisen, ob die Planungen der Landesregierung ausreichen, wenn sie mit der Wirklichkeit konfrontiert werden.“

85 Originalschauplätze und ein Großaufgebot an Komparsen

Die Smog-Fabel geht davon aus, dass sich im Spätherbst durch ein Hochdruckgebiet, das von Frankreich bis zur Ukraine reicht, am Boden feuchtkalter Nebel staut. Bis zu einer Höhe von 400 Metern entfällt jedweder Luftaustausch, sodass die untere Atmosphäre regelrecht gedeckelt wird. Verbrauchte Atemluft kann nicht mehr abziehen, andere Emissionen erst recht nicht. Neben Schwefeldioxid verdichten sich Stickoxide, Kohlenwasserstoff und Kohlenmonoxid. Die Botschaft des Films: Der Mensch im Ruhrgebiet ist in einem Käfig aus schädlicher Luft gefangen und kann nur hoffen, durch einen Wetterumschwung befreit zu werden. Solange Windstille herrscht, hofft er vergebens. Bis auf Weiteres nimmt die Lufttemperatur nicht wie üblich von der Erdoberfläche nach oben hin ab, sondern zu, worin sich Anfänge eines Klimawandels zeigen.

Regisseur Petersen ließ an 85 Originalschauplätzen im Revier drehen und ein Großaufgebot an Komparsen verpflichten: Polizisten, Hausfrauen, Malocher, Fußballer, Schulkinder, Ärzte, Busfahrer, Seelsorger, das Crescendo der Ereignisse wechselt mit dem großen Panorama des 360-Grad-Schwenks über ein in Dunst getauchtes Land. Zunächst gilt Smogwarnstufe I, nur 24 Stunden später Stufe II, weil der Schwefeldioxid-Wert auf durchschnittlich zwei Milligramm pro Kubikmeter Luft steigt. In den Großräumen Essen und Duisburg wird daraufhin der private Pkw-Verkehr verboten. Industriebetriebe sollen ihre Produktion drosseln. Am besten ganz einstellen. Es wird empfohlen, nur noch ein Zimmer zu heizen, auf der Straße einen Mund- und Nasenschutz zu tragen.

Erlebbar werden eine hochgradig verwundbare Gesellschaft und das Unvermögen, sich über diese Verwundbarkeit Klaren zu sein. Die Notsituation trifft im Film auf mehr Ohnmacht als angemessenes Verhalten von Behörden und Bürgern. Die Landesregierung beschwichtigt und verhandelt hinter verschlossenen Türen mit der Industrie. Das allgemeine Fahrverbot wird nur teilweise durchgesetzt. Polizisten und Absperrgitter fehlen, Schilder lassen sich nicht beleuchten, ein Kompetenzstreit zwischen Ordnungs- und Tiefbauamt hält auf. Während der ausgefochten wird, sterben Menschen am Steuer ihres Wagens, auf der Straße, in der Kneipe, in der Wohnung. Rettungswagen stecken im Stau. Binnen Kurzem sind die Kapazitäten der Krankenhäuser erschöpft, denen Sauerstoffgeräte fehlen, um Leben zu retten.

„Wenn wir abbrechen, ist draußen die Hölle los ...“

Niemand hat die Courage, ein Fußballspiel mit 15.000 Zuschauern zwischen einem Essener und Duisburger Verein abzusagen. Es wird auch dann nicht abgepfiffen, als ein Spieler am Boden liegt und zu ersticken droht. Der eintreffende Arzt ist bestürzt: „Es ist unverantwortlich, dass bei dieser Luftbeschaffenheit Hochleistungssport getrieben wird.“ Reaktion des Essener Vereinspräsidenten: „Wenn wir abbrechen, ist draußen die Hölle los ...“

Das Verhalten der Industrie wird am Beispiel der Globag-Werke vorgeführt, eines metallurgischen Großunternehmens, bei dem sich der Vergleich zu Thyssen-Krupp aufdrängt. Als der Koloss gebaut wurde, habe das Ruhrgebiet einst die letzte grüne Zone verloren, heißt es, aus den Schloten der Globag komme keine frische Luft. Globag-Direktor Grobeck untersagt jede Rücknahme der Produktion, als Smogwarnstufe II verkündet ist, und ordnet an, für die Außendarstellung müsse nunmehr gelten: „Bei den Globag-Werken hat ein ökonomischer Standpunkt sui generis nie existiert und wird nie existieren.“ Sollen auf Kosten des Konzerns Kinder aus vom Smog betroffenen Stadtquartieren in konzerneigene Ferienquartiere im Allgäu geflogen werden? Grobeck winkt ab. „Das würde so aussehen, als hätten wir ein schlechtes Gewissen.“ Vielmehr müsse darauf verwiesen werden, dass vom Unternehmen neue Arbeitsplätze zum Wohle von Bewohnern des Ruhrgebietes geschaffen wurden, die ansonsten von Wachstum ausgeschlossen seien. „Wenn man uns hier nicht mehr will, woanders nimmt man uns mit Kusshand.“

Autor Menge legt Wert darauf, soziale Konturen nachzuzeichnen, die im Moment der Krise besonders hervortreten. So wird die Tragödie in der Familie des Arbeiters Rykalla gestreift, der mit seiner Familie in einem grauen Duisburger Mietshaus wohnt und durch den Smog seine erst sechs Wochen alte Tochter verliert. Nach einer Fehldiagnose des Hausarztes und der verzweifelten Suche nach einem Bett im Hospital ist alles zu spät. Wenigstens fährt der Seelsorger für die letzte Ölung im Taxi vor. Und während Rykalla jeden Morgen die Dreckschicht von der Frontscheibe seines Wagens kratzt, lässt Direktor Grobeck seine Dienstlimousine im Leerlauf durchwärmen, bevor er einsteigt.

Die erfasste Dramatik des Geschehens will den Zuschauer nicht überlisten, sich einem Horrorszenario auszusetzen, stattdessen gewinnen, sich der Moral dieser Geschichte zu öffnen. Seht, was die störrische Ignoranz von Industrie und Staat, die Rücksichtslosigkeit des Einzelnen anrichten, wenn eine Umweltkatastrophe wie diese über eine ganze Region hereinbricht. „Finden Sie es nicht reichlich rücksichtslos, jetzt noch Auto zu fahren?“, fragt ein Fernsehreporter einen Mann im Stau. Antwort: „Wieso, die anderen fahren ja auch. Das Auto muss sein.“

Aus heutiger Sicht gilt der sehnsüchtige Blick einer Fernsehdramatik, die sich berufen fühlte, in Zeitgeschehen einzugreifen, indem dessen selbstzerstörerisches Potenzial offenbart wurde. Ein Fantast, wer sich vorstellt, öffentlich-rechtliches Fernsehen wäre dazu noch willens und fähig. Zum Beispiel nach diesem brennenden Sommer mit einem nach Kerneuropa driftenden Klimawandel.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

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