1982: Mit Leonid Breschnew stirbt der letzte Langzeitherrscher der UdSSR
Zeitgeschichte Mit Leonid Breschnew verstirbt der letzte Langzeitherrscher der UdSSR. Das vorrevolutionäre Russland begründete ein Muster, das das postsowjetische Russland aufgreift: Innere Stabilität braucht personelle Kontinuität. Ein ehernes Prinzip
November 1981, Breschnews letzter Besuch in Bonn, bei Helmut Schmidt
Foto: Sven Simon/Imago Images
Die Bilder vom letzten Besuch Leonid Breschnews in Bonn Ende November 1981, ein Jahr vor seinem Tod, sind längst aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden. Umso mehr lohnt die Erinnerung. Sie kann hilfreich dafür sein, ein Phänomen sowjetischer wie russischer Politik zu ergründen – die Gestalt des Langzeitherrschers, des mutmaßlich unentbehrlichen Führers, der erst gehen darf, wenn das der Tod entscheidet. Im nasskalten Herbst am Rhein sah man seinerzeit einen von Krankheit gezeichneten, nur mit Mühe artikulationsfähigen Sowjetführer, der sich an einer Ehrenformation der Bundeswehr vorbeischleppte. Breschnew wurde gestützt, als es die Stufen zur Residenz Schloss Gymnich hinaufging, damals das Gästehaus der Bundesregierung.
ng. Zu allem Überfluss traf er auf einen höchst agilen Kanzler Helmut Schmidt. Der Gastgeber schien angesichts seines kaum mehr satisfaktionsfähigen Gastes vorwegzunehmen, was der Sowjetunion ein paar Jahre später als Schicksalsschlag bevorstand – der lockere Triumph des Westens im Kalten Krieg.Der 74-jährige Breschnew war zu diesem Zeitpunkt mehr als 17 Jahre KPdSU-Generalsekretär, er hatte 1964 den eigen- und reformwilligen Nikita Chruschtschow gestürzt. Keiner aus dem Oberhaus der Moskauer Nomenklatura brachte es nach dem Tod Josef Stalins im März 1953 auf eine ähnlich gestreckte Amtszeit. Als Breschnew am 10. November 1982 starb, galt er als Inkarnation unerschütterlicher Orthodoxie im Politbüro und davon ausgehender Stagnation. Die Rote Armee hatte Ende 1979 unter seiner Verantwortung in Afghanistan eingegriffen und war in einen verlustreichen Abnutzungskrieg geraten, in dem die USA und Pakistan als Paten einer gut gerüsteten islamistischen Guerilla keine Gnade kannten. Breschnews Afghanistan-Korps traf eine zermürbende, tödliche Heimsuchung. Was der Sowjetunion jener Jahre noch mehr zu schaffen machte, war eine ökonomisch kaum länger verkraftbare Rüstungsrivalität mit den USA. Darunter litt das Stehvermögen in der Systemkonkurrenz. Es kam zu einem technologischen Rückstand, der selbstzerstörerische Züge trug, weil er irreversibel war. Ein magersüchtiger Lebensstandard entzog dem Sozialismus zusehends die Legitimation, wobei es Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei oder der DDR nicht anders erging.Breschnews Nachfolger Juri Andropow, von 1982 bis 1984 Parteichef, und Michail Gorbatschow (das Konstantin-Tschernenko-Interregnum 1984/85 kann man als letztes Aufbäumen der Orthodoxie getrost ausklammern) mochten so viel reformerischen Esprit aufbringen, wie sie wollten – die Erosion blieb ihnen erhalten. Nach sieben Jahrzehnten stand die erste sozialistische Großmacht der Welt auf der Kippe. Warum nur hatte jemand wie Breschnew so lang zum Nachteil einer ganzen Gesellschaft regieren können? War das Erbe des Stalinismus ausschlaggebend? Hatte es die Überzeugung genährt, innere Stabilität brauche personelle Kontinuität? Anfang der 1980er entstand zuweilen der Eindruck, Breschnew hafte das Charisma einer „historischen Figur“ an, dem Tagesgeschäft entrückt und dafür in keinerlei Haftung mehr zu nehmen. Anteil an jener sakral anmutenden Überhöhung hatte die außenpolitische Ertragslage. Breschnew setzte in den späten 1960ern und frühen 1970ern bis hin zum KSZE-Schlussgipfel von Helsinki (1975) auf Entspannung mit dem Westen, ohne übermäßige Konzilianz walten zu lassen. In seine Zeit fielen die SALT-I- und SALT-II-Abkommen mit den USA, deren Kern der 1972 geschlossene ABM-Vertrag zur Begrenzung der strategischen Abwehrsysteme war. Immerhin stattete er beide Atommächte mit der Gewissheit aus, im Fall eines nuklearen Schlagabtauschs hochgradig verwundbar zu sein.Bei alldem blieb Breschnew unbeirrbarer Anwalt sowjetischer Großmachtinteressen, worin sich ein auf das eigene Lager gemünzter Disziplinierungsanspruch spiegelte. Die „Breschnew-Doktrin“ ging von einer begrenzten Souveränität der Verbündeten aus, die dem Zusammenhalt des Ostblocks zu dienen hatten. Wer ausscherte wie die ČSSR 1968 mit ihrem Reformsozialismus, wurde durch Intervention zur Räson gebracht. Unverkennbar verkörperte Breschnew ein Machtverständnis, das trotz der als Wendepunkt ohnegleichen beschworenen Revolution von 1917 in der russischen Geschichte wurzelte. Für die Zarendynastie hatte bis zu ihrem letzten Statthalter Nikolaus II. allzeit die Maxime Vorrang, dass staatliche Autorität in einem Reich der unberechenbaren Fliehkräfte und destruktiven Energien unanfechtbar sein müsse. Dafür erschien das Regieren in Permanenz als sicherste Gewähr. Das Gebot, Macht zu gebrauchen, um Kontrollverlust und Zerfall vorzubeugen, begründete zaristische Selbstherrschaft. Wenig überraschend stieß deren hybrider Stoizismus im Ersten Weltkrieg an Grenzen. Es gingen Schlachten in Ostpreußen, Polen und Galizien verloren, dazu gewaltige Territorien. Und ein Regime, das sich als kriegsuntauglich erwies, konnte das überlebensfähig sein?Stalin kam Anfang der 1930er Jahre darauf zurück, dass die ungeschlachte Monstrosität des Landes in einer Ära brachialer Industrialisierung die Despotie geradezu erzwinge. Die „primitive Philosophie des Volkes“ bestehe darin, dass es in Zeiten wie diesen, in denen das morbide Russland abdanke, einen Führer wie ihn wünsche, meinte er im Gespräch mit dem Schriftsteller Lion Feuchtwanger, geführt am 8. Januar 1937 im Kreml. Es fiel der Satz: „Ich bin machtlos, ich bin ein Gefangener des Volkes.“ Nur verachtenswert als zynische Verklärung neuerlicher Selbstherrschaft? Oder Anstoß zu der Überlegung, ob eine Sowjetunion der Stahlkocher und Stalin einander bedingten?Es spricht einiges dafür, dass Demut vor überlieferter Führungstradition das postsowjetische Russland nicht unberührt ließ, zumal seine Protagonisten den Kollaps der Sowjetunion direkt miterlebt und erfahren hatten, dass Niedergang rasend schnell in Agonie umschlagen konnte. Wie Boris Jelzin, Wladimir Putin oder Dmitri Medwedew im Einzelnen zur Selbstaufgabe der UdSSR stehen mochten, ob sie den Systemwechsel begrüßten oder nicht – der Verlust an innerer Stärke und globaler Geltungsmacht ließ sich nur schwer verwinden. Insofern war die Matrix des Langzeitherrschers – ab Januar 2000 verkörpert durch Präsident Putin – weniger Anachronismus als adäquate Antwort auf Russlands Bedürfnis nach Rehabilitation innen wie außen. Unterbrochen durch das Mandat Medwedews 2008 bis 2012, hat Russlands derzeitiger Staatschef 18 Jahre als Präsident und vier als Premier regiert. Das heißt, er übertrifft Breschnew und wirkt nun gleichfalls wie von „historischem Firnis“ überzogen. Unabhängig davon, was ihm der Ukraine-Krieg an Autoritätsverlust oder -gewinn beschert, die Frage bleibt: Kann ihm das Land entkommen, ohne Schaden zu nehmen?Die 2020 per Referendum mit einer Zustimmungsrate von 78 Prozent (Wahlbeteiligung 65 Prozent) angenommene neue Verfassung regelt, dass bei der Zählung bisheriger präsidialer Amtsperioden wieder bei null begonnen wird. Das heißt, Putin könnte sein Mandat theoretisch bis 2036 halten, er wäre dann 83 und 36 Jahre in Verantwortung. Entscheidend ist die Option, dass es so sein könnte, weniger die Gewissheit, dass es so kommen wird. Die jetzige Magna Charta stellt lediglich klar: Mit der Wahl 2024 muss es keinen Abschied des Langzeitherrschers geben. Der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin meinte in einem Interview kurz vor dem Verfassungsplebiszit im Juli 2020, ein Präsident, für den nicht gesichert sei, dass er ein weiteres Mal kandidieren dürfe, sei eine Gefahr für die Stabilität Russlands. Unklare Machtverhältnisse würden Zerreißproben androhen, die besser unterbleiben sollten. Freilich ist ebenso wenig zu bestreiten: Je länger offenbleibt, wann Putin abtritt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sich dies ohne signifikante Eruptionen steuern lässt. Käme es anders, würde er im Amt sterben wie einst Leonid Breschnew?
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