1989: Deutsche Karriere

Zeitgeschichte Bernhard Wicki erzählt in seinem Film „Das Spinnennetz“ die prophetische Parabel vom Aufstieg des Leutnants Lohse in rechtsradikalen Zirkeln der Weimarer Zeit
Ausgabe 48/2019

„Maikäfer flieg, der Vater ist im Krieg“, wird im Herbst 1918 auf Hinterhöfen im Berliner Wedding gesungen oder mit einem Grashalm im Mund unter kahlen Birken am Wannsee. Aber Leutnant Lohse ist nicht mehr im Krieg. Er hat Flandern und Verdun überstanden, zu guter Letzt noch einen Bajonettstich, als er in Kiel seiner Einheit den Feuerbefehl erteilt. Rote Matrosen marschieren heran und sollen niedergemäht werden. Doch Lohses Soldaten schießen in die Luft, ihr Maschinengewehr schweigt, der Tross steigt darüber hinweg und zieht weiter. Allein Lohse kommt nicht ungeschoren davon. Ein paar Zentimeter über dem Herzen trifft ihn der Stahl. „Ich will das nicht überleben“, flüstert der Schwerverletzte seinem Unteroffizier Günter zu, der annimmt, einen Sterbenden im Arm zu halten.

Der Wunsch bleibt unerfüllt. Lohse überlebt, was er nicht ertragen kann. Er wird aus der Reichswehr entlassen und strandet in einer Republik, die er inbrünstig hasst. Alles ist unbegreiflich, was ihm geschieht. Als Privatlehrer beim jüdischen Bankier Efrussi muss der aus seiner Bahn Geworfene das Jurastudium finanzieren, die Extravaganz einer Rahel Efrussi, der Dame des Hauses, vor Augen, die sich einen Salon für Dadaisten hält und Lohse verzehrend begehrt. Die Affäre ist nur eine Frage der Zeit.

So weit der Einstieg in die Fabel von Bernhard Wickis letztem Spielfilm Das Spinnennetz, der vor 30 Jahren anläuft, an dem der Regisseur solcher Werke wie Die Brücke und Die Grünstein-Variante 1977 zu schreiben beginnt, und der ihn für fast zwölf Jahre beschäftigen wird. Wickis Drehbuch geht auf einen Stoff des österreichischen Schriftstellers Joseph Roth (1894 – 1939) zurück. Der hat keinen ausgereiften Roman hinterlassen, mehr einen episodischen Reigen. In Fortsetzungen wird Das Spinnennetz als Parabel vom Ab- und Aufstieg des Theodor Lohse in der Wiener Arbeiter-Zeitung Ende 1923 abgedruckt.

Aber Wicki will keinen historischen, sondern einen prophetischen Film über einen kaltblütigen, von sich selbst immer seltener erschrockenen Karrieristen drehen, von dem man ahnt, wo er steht, wenn die Republik zerstört sein wird. Vom homosexuellen Prinzen Heinrich protegiert, dem er sich widerwillig hingibt, gerät Lohse ins „Spinnennetz“ einer von Militärs, Industriellen, Bankern und Junkern unterhaltenen rechtsextremen Geheimloge. Sie schreckt vor politischer Intrige, Manövern als schwarze Reichswehr, vor Lynch- und Fememord nicht zurück. Es ist die stupide Mechanik eines Räderwerks, die Lohse als willigen Vollstrecker erfasst, bis er so weit ist, es selbst zu bewegen, um andere zu zermahlen. Eine Figur, der man das Monster glaubt, auch wenn ihr der Mensch nie ganz abhandenkommt, im Film verkörpert durch den DDR-Schauspieler Ulrich Mühe, den Wicki für die Idealbesetzung, „einen wahren Glücksfall“, hält.

Nicht nur Maikäfer sind zum Fliegen da, auch Engel. Warum nicht der goldene weit oben auf der Berliner Siegessäule? Lohse wird von seinen Auftraggebern zunächst als Spion in eine Gruppe von Anarchisten eingeschleust, denen die monumentale Erinnerung an die Einigungskriege zwischen 1864 und 1871 derart missfällt, dass sie ihr mit Dynamit zusetzen wollen. Freilich wird die Sprengung verhindert, woran Lohse einen Anteil hat. In diesem konspirativen Untergrund trifft er auf den Juden und Doppelagenten Benjamin Lenz, Zuträger der Polizei wie von Lohses Geheimbund gleichermaßen. Lenz beschafft und verkauft Informationen, um sich damit zu kaufen, wofür ihm kein Preis zu hoch scheint: Pässe und Aufenthaltspapiere. Ein halbes, manchmal auch ein ganzes jüdisches Leben kann in Berlin darüber vergehen, einen zwecklosen Kampf um und gegen Papiere zu führen. Lenz will das seinen Leuten im Scheunenviertel abnehmen, für ein bisschen Sicherheit, einen Hauch von Leben im Vorhof der Hölle gleich hinter dem Alexanderplatz.

Hat der Jude Lenz als Hehler heißer Nachrichtenware trotzdem die Moral auf seiner Seite? – fragt der Film. Darf man ihn als schillernde, zwielichtige, schuldbehaftete Figur darstellen? Und wird das dadurch abgegolten, dass Lenz zum Schluss von Lohses Schergen barbarisch ermordet wird, indem sie ihn vor eine anfahrende Lokomotive werfen? – Für Bernhard Wicki ist es kein Sakrileg, Joseph Roths Vorlage um eine Sequenz anzureichern: ein Judenpogrom im Scheunenviertel als Schrittmacher der faschistischen Reaktion, das es am 5. und 6. November 1923 tatsächlich gegeben hat. In der Schendelgasse, der Hirten-, Grenadier- und Dragonerstraße werden Geschäfte geplündert und Gläubige aus den Betstuben gezerrt, um ihnen die Bärte abzuschneiden, sie auf die Straße zu treiben und übers Pflaster zu schleifen. Hunderte werden bei dem als Razzia getarnten Überfall als „Staatenlose“ festgenommen, gleich ausgewiesen oder in das für Internierungen vorgesehene Lager Stargard in Westpommern deportiert. Ihr Schicksal als Vorwegnahme dessen, was allen anderen später geschieht.

Das Pogrom, von Wicki überaus drastisch geschildert, hilft dabei, Lenz als Gegenspieler von Lohse, dem Anstifter des gegen die Juden ausschwärmenden Mobs, in Szene zu setzen. Lenz will dem Mörder einen mörderischen Kampf liefern. Unerbittlich, gnadenlos, ebenbürtig. Er lockt Lohse nachts ins preußische Innenministerium, wofür der sich durch ein Massaker an polnischen Landarbeitern empfohlen hat, und will ihn zum Äußersten zwingen: den Sprung aus dem Fenster als Schuldeingeständnis, als Sühne, als Strafe – als Rache. Lenz hat ein schreiendes, kreischendes, winselndes, kotzendes Wesen fast so weit, wie er gehen will. Und gibt auf. Selbstmörderischer kann Gnade kaum sein. Man weiß in diesem Moment, die Sequenz ist als Äquivalent gedacht. Sie setzt unvollendete gegen vollendete Gewalt, zu der es kommt, als sich Lohse seines einstigen Unteroffiziers Günter entledigt, der ebenfalls zum „Spinnennetz“ gehört und gefährlich werden kann. Er weiß über die Liaison des Antisemiten Lohse mit der Jüdin Rahel Efrussi bestens Bescheid.

Eine Spitzhacke trifft Günter mitten in die Stirn. Ringsherum dichtes Unterholz, sattes Grün, verhaltener Vogelgesang, dazu Günters letztes Zucken, das kein Aufbäumen mehr ist. Und wie aus dem Hades auftauchend der von Blut triefende Lohse. Nur noch Flügel müssten diesem Todesengel wachsen, um zu entschwinden und nie mehr gesehen zu werden unter den Menschen. Aber kein Maikäfer will da mehr fliegen. Die Szene schnürt dem Betrachter die Kehle zu, auch weil die Regie nicht lockerlässt und Gewalt und Sex zusammenführt. Während er den nackten Körper der Bankiersgattin streichelt, beginnt Lohse seine Verteidigungsrede für das Ehrengericht der „Organisation“, vor dem er bald stehen wird, um sich reinzuwaschen von aller Schuld. Die Honoratioren gewähren es ihm, wohl wissend, dass er lügt: Mörder, so kalt, so skrupellos, die schickt man nicht weg. Die werden gebraucht.

Als die Mordszene im Wald bei den Filmfestspielen in Cannes zu Buhrufen, heftigem Protest, fast einem Skandal führt, verteidigt sich Wicki: Die faschistische Finsternis schon in der Weimarer Republik sei furchtbarer gewesen. „Obwohl es 1923 spielt, hat ‚Das Spinnennetz‘ eine unheimliche Nähe zu uns. Es geht um die Zeit vor dem Faschismus. Der Tendenz zum Rechten, die in Deutschland leider unausrottbar zu sein scheint ...“, sagt er Ende 1989 in einem Interview.

Ehrbare, von nationalem Stolz durchdrungene Leute wollten die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin stürzen, wird mit bebender Stimme auf einem Fest der „Organisation“ am Abend des 9. November 1923 verkündet. München hätten sie schon übernommen, angeführt von Adolf Hitler und General Ludendorff werde nun auf die Reichshauptstadt marschiert. Die Spinnen kriechen nicht mehr im Dunkeln herum, sie wollen ans Licht. Nur Lohse nicht. Er ist längst so weit, wie er sein will, und zeigt allen, die es sehen wollen, das Hakenkreuz unterm Revers.

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Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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