1989: Elend der Demokratie

Zeitgeschichte Die DDR-Führung will bei Kommunalwahlen Legitimation tanken und bewirkt durch geschönte Resultate das Gegenteil. So beginnt der Wendeherbst bereits im Frühjahr
Ausgabe 18/2019

Eben noch hat Betriebszeitungsredakteur Ali Hütte empört aufgeschrien, weil ein junger Arbeiter seines Werkes im Ostberliner Industrierevier Oberschöneweide nicht als Aktivist ausgezeichnet werden will, stattdessen höhnisch abwinkt. Nun sitzt er da, zusammengesunken, in sich gekehrt, betroffen, erschrocken. Der sichtlich verzweifelte Mann um die 60 hat unter den Nazis im KZ gesessen, das Lager überlebt, loslassen wird es ihn nie. In dem 1965 gedrehten und noch im gleichen Jahr aus dem Verkehr gezogenen DEFA-Film Berlin um die Ecke (Regie: Gerhard Klein) fragt Hütte nach der hitzigen Betriebsversammlung seinen Parteisekretär: „Denkst du nie, dass das alles noch mal verloren gehen könnte?“ Gemeint sind die DDR und der Sozialismus. Der Befragte nimmt sich Zeit für das Anzünden einer Zigarette und sagt in den blauen Dunst hinein: „Nein, niemals.“

Die Szene deutet auf die Urangst, das Trauma vieler Kommunisten damals in der DDR. Man war im Frühjahr 1933 fast wehrlos der NS-Diktatur ausgeliefert und als Partei zerschlagen worden. Umso mehr galt es jetzt, die errungene Macht nie wieder preiszugeben. Es würde sich schwer, vielleicht niemals zurückgewinnen lassen, was einmal verloren ging. Diesem Bewusstsein gehorcht der Umgang mit Wahlen, ob zur Volkskammer oder zu kommunalen Gremien wie Kreistagen, Stadtverordnetenversammlungen und Gemeindevertretungen. Darüber wird alle fünf Jahre, so auch am 7. Mai 1989, entschieden – sechs Monate vor dem 40. Jahrestag der Republik.

Der soll hochgemut gefeiert werden, um die DDR als Werk der Generationen zu würdigen und ein Zeichen zu setzen gegen die Sozialismusdämmerung systemweit. Die Sowjetunion Gorbatschows ist wirtschaftlich ausgelaugt und überlässt die Verbündeten sich selbst. Polen steckt bereits mitten in der Systemwende, nachdem bis Anfang April ein Runder Tisch – der erste im Ostblock – getagt und sich über eine Machtteilung zwischen der Staatspartei PVAP und der oppositionellen Solidarność geeinigt hat. Ungarns KP will sich durch Sozialdemokratisierung retten und schielt nach Westen. In China beginnt der Mai mit Sitzblockaden von Studenten auf dem Tian’anmen-Platz, die sich daran stören, wie die politische Ordnung der Volksrepublik bei aller sonstigen Reformdynamik stur auf sich beharrt.

Das sozialistische Lager schwankt zwischen Eruption und Erosion, auch die DDR bleibt nicht verschont, aller offiziell artikulierten Zuversicht zum Trotz ist sie verletzbarer als in ihren Gründerjahren nach 1949, seinerzeit mit einer offenen Grenze im Nacken, aber der sowjetischen Besatzungsmacht im Rücken.

1988 haben mehr als fünf Millionen DDR-Bürger die Bundesrepublik und Westberlin besuchen können, davon 1,3 Millionen unterhalb des Rentenalters. Kurz vor dem Honecker-Besuch in Bonn Anfang September 1987 hat die Führung in Ostberlin als Geste des guten Willens dem Dortmunder Forsa-Institut zugestanden, 513 DDR-Bürger telefonisch zu befragen. Dabei sagen 71 Prozent, sie hielten eine Wiedervereinigung auf lange Sicht nicht für ausgeschlossen, ja, für wünschenswert.

Ist dem Sozialismus auf deutschem Boden nur noch eine Restlaufzeit vergönnt, wenn überhaupt? Und was lässt sich in solcher Lage mit einer Kommunalwahl ausrichten – oder anrichten? Zwei Varianten kommen in Betracht: Die DDR kann sich angreifbarer machen, als sie ohnehin schon ist, indem alles abläuft wie immer. Oder das Gegenteil bewirken und Legalität walten lassen, sofern die Gesetze eingehalten werden. Die Alternative läuft auf ein alternatives Ergebnis hinaus: Entweder wird am Wahlabend verkündet, dass auf die Kandidaten der Nationalen Front (der SED, der Blockparteien CDU, LDPD, NDPD und DBD, der Dachgewerkschaft FDGB, der FDJ, des Frauen- und Kulturbundes) wie üblich 99 Prozent entfielen. Oder man erfährt, dass die Einheitslisten diesmal nur bei 85 Prozent der Wähler Akzeptanz fanden. Als Ergebnis immer noch phänomenal, aber real, falls die Macht- nicht über der Demokratiefrage steht und das Recht zu seinem Recht kommt.

Über die kommunalen Vertretungen ist nach Artikel 2 des DDR-Wahlgesetzes vom 24. Juni 1976 „in allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlen“ zu befinden. Jeder kann demnach allein über sein Votum entscheiden. Niemand darf es verwehrt sein, im Wahllokal die Wahlkabine aufzusuchen, weil nur so eine geheime Wahl möglich ist. Jeder kann den Wahlvorschlag ablehnen, indem er alle Kandidaten durchstreicht und so eine Gegenstimme abgibt. Am Wahlabend muss laut Artikel 37 des zitierten Wahlgesetzes öffentlich ausgezählt werden. Wer sich dafür interessiert, darf das verfolgen und sich überzeugen, ob das Protokoll des Wahlvorstandes korrekt geführt wurde. Besonders in Ostberlin, Leipzig, Halle, Plauen, Schwerin und Dresden machen von diesem Recht am 7. Mai 1989 Bürger regen Gebrauch. Tags darauf stellen sie fest, dass die in ihren Städten verkündeten Ergebnisse nicht wiedergeben, was sie gesehen haben. Offiziell werden für das ganze Land 153.437 (1,3 Prozent) Gegen- und ungültige Stimmen sowie 153.255 (1,2 Prozent) Nichtwähler ausgewiesen, das „schlechteste“ Ergebnis aller bis dahin in der DDR abgehaltenen Wahlen – diesmal mit weniger als 99, aber noch 98,77 Prozent Ja-Stimmen.

Die bereits schwelende Gesellschaftskrise lässt sich angesichts der durch die manipulierte Wahl ausgelösten Proteste nicht mehr eindämmen, im Herbst wird sie offen ausbrechen, das DDR-Jubiläum zum Requiem werden. Da sich die Politik die Realität verbeten hat, nimmt sie schweren Schaden, und das unwiderruflich. Nicht anders ergeht es der Demokratie, die in der DDR keine parlamentarische, sondern eine sozialistische sein soll, um „die öffentliche Gewalt durch das in einer Klassenpartei organisierte Proletariat“ ausüben zu können. So hatte es Karl Marx nach der Pariser Kommune von 1871 formuliert, in der er den historisch ersten Fall einer Diktatur des Proletariats zu erkennen glaubte.

Bezogen auf die DDR ist die Frage nur noch von theoretischem Reiz, ob es innerhalb dieses Herrschaftstyps zur Diktatur einer Partei oder zu einem sozialistischen Pluralismus kam, der durch den Wettstreit der Ideen den Sozialismus voranbrachte. Derartiges stand Rosa Luxemburg vor Augen, als sie 1918 in ihrem Essay Die Russische Revolution als Kritik an den Bolschewiki in Sowjetrussland die „Freiheit der Andersdenkenden“ reklamierte. Damit war freilich Meinungsfreiheit weniger im bürgerlichen Sinne als innerhalb einer von der Macht des Kapitals befreiten Gesellschaft gemeint. Eine bei heutigen Diskursen eher selten zitierte Aussage jener Schrift lautet, wenn das Proletariat die Macht errungen habe, müsse es „sofort sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben, aber Diktatur der Klasse, nicht einer Partei oder einer Clique, Diktatur der Klasse, d. h. in breitester Öffentlichkeit, unter tätigster ungehemmter Teilnahme der Volksmassen ...“

Luxemburg schien davon überzeugt zu sein: Da eine Mehrheit der Arbeiterschaft – wenn nicht die gesamte Klasse – von einer ausbeutungsfreien Produktionsweise profitiere, werde sie demokratische Rechte niemals dazu gebrauchen, überwundene ökonomische und politische Verhältnisse zu restaurieren. Das hielt Lenin für illusionär, dem wollte die SED aus ihrem leninistischen Machtverständnis heraus nicht trauen, das wurde in der Geschichte des 20. Jahrhunderts – wohlgemerkt unter den Bedingungen der bürgerlichen Demokratie – unablässig widerlegt. Und es folgt keiner vulgärmaterialistischen Sicht, wer die letzte Volkskammerwahl der DDR am 18. März 1990 als Beleg dafür nimmt, wie sehr sich die arbeitende Klasse gegen ihre elementaren Interessen entscheiden kann. Was war die sich anschließende flächendeckende, inzwischen heftig beklagte Deindustrialisierung des Ostens sonst als das Auslöschen einer kollektiven sozialen Existenz?

Ali Hüttes (Macht-)Frage wurde erneut und diesmal endgültig beantwortet.

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