Dieser Aufschrei der Hierbleiber ist nicht zu überhören. Die DDR wirkt ausgelaugt und irgendwie lebensmüde, als Rockmusiker Mitte September 1989 dazu übergehen, vor ihren Auftritten eine gemeinsame Erklärung zu verlesen. „Es macht uns krank“, heißt es da, „tatenlos hinnehmen zu müssen, wie Versuche einer Demokratisierung … kriminalisiert bzw. ignoriert werden.“ Niemand wolle den Sozialismus abschaffen, vielmehr sollten Reformen dafür sorgen, dass er in diesem Land „weiterhin möglich“ sei. Man wolle bleiben, doch dürfe der Exodus so vieler Altersgenossen nicht länger beschwiegen und bagatellisiert werden. „Feiges Abwarten liefert gesamtdeutschen Denkern Argumente“, so die prophetische Warnung vor dem womöglich Unausweichlichen.
Den ganzen September über verharrt die DDR-Führung in sprachloser Schockstarre und hat sich der Devise verschrieben: Wir lassen uns den 40. Jahrestag der Republik am 7. Oktober nicht verderben, dann wird man sehen. Nach dem Paneuropäischen Picknick vom 19. August hat die ungarische Regierung am 11. September gegen 0.00 Uhr – ohne Absprache mit Ostberlin – die Grenze für weitere 7.000 DDR-Bürger geöffnet, die über Österreich gen Westen streben. Danach passieren Tag für Tag 400 bis 500 Menschen die Furt zwischen den Systemen, während sich zugleich Hunderte in den bundesdeutschen Botschaften in Warschau und Prag niederlassen, um ihre Ausreise zu erzwingen.
Noch in der Sitzung des SED-Politbüros vom 4. Mai 1989 hat DDR-Verteidigungsminister Keßler beschwichtigt, auch wenn Ungarn eine befestigte Grenze zum Westen nicht aufrechterhalte, gelte doch weiter das übliche Grenzregime. DDR-Bürger ohne Ausreisevermerk ihres Staates würden zurückgewiesen – dafür bürge die ungarische Armee. Keßler soll sich täuschen. Auch wenn die Generalität in Budapest dem skeptisch gegenübersteht, haben in der regierenden Ungarischen Sozialistischen Arbeiterpartei (USAP) längst reformerisch sozialdemokratische Kräfte das Sagen, darunter Außenminister Gyula Horn, der seinen DDR-Amtskollegen Oskar Fischer abblitzen lässt, als der einen Emissär nach Budapest schickt, um mehr Bündnisloyalität zu verlangen. Daraufhin fragt die DDR-Regierung Mitte September intern in Moskau nach, ob nicht ein Außenministertreffen der Warschauer Vertragsstaaten geboten sei, und stößt auf Vorbehalte. Es ist der erklärte Wille Michail Gorbatschows, die Bündnispartner politischer Eigenverantwortung zu überlassen. Jedes Land müsse selbst über seinen Kurs entscheiden, freilich ohne bestehende Verträge zu verletzen, stand in der Rede vor der 43. UN-Generalversammlung im Dezember 1988. Noch kein KPdSU-Generalsekretär hat der Breschnew-Doktrin von der begrenzten Souveränität der Verbündeten eine solche Absage erteilt. Kehrseite dieser Katharsis sind relativierte Bestandsgarantien für die „Bruderstaaten“, was in der DDR mit Sorge registriert wird.
Von Gorbatschows Laissez-faire profitiert nicht zuletzt Polen, als dort Ende August der Sejm mit Tadeusz Mazowiecki den ersten nicht kommunistischen Premier seit 1945 wählt, der in seiner Regierungserklärung mitteilt, er wolle das Land von der Plan- zur Marktwirtschaft führen. In Ungarn verabschiedet sich die USAP von leninistischen Prinzipien wie dem demokratischen Zentralismus. Die Führung in Ostberlin fühlt sich von Abtrünnigen umgeben und scheint überzeugt, im erodierenden sozialistischen Lager letzter Hort der Stabilität zu sein – trotz der Flüchtlinge und des gärenden Unbehagens selbst in der SED ob dieses Realitätsverlusts.
Erich Honecker hat am 7. Juli wegen einer Gallenkolik den Gipfel des Warschauer Vertrages in Bukarest vorzeitig verlassen müssen, wird später operiert, was mit Komplikationen verbunden ist und dazu führt, dass der SED-Generalsekretär fast den gesamten September über pausiert. Nicht der als potenzieller Nachfolger gehandelte Egon Krenz darf ihn vertreten – dies übernimmt auf ausdrücklichen Wunsch Honeckers Wirtschaftssekretär Günter Mittag. Der blockiert in den Politbüro-Sitzungen, was auf eine offizielle Erklärung zum inneren Zustand der DDR hinauslaufen könnte, und redet stattdessen von einem „imperialistischen Generalangriff“. Im Protokoll der Sitzung vom 12. September wird „Befremden über das Verhalten der ungarischen Regierung“ geäußert, doch eine Diskussion über die Abkehr so vieler junger DDR-Bürger von ihrem Land mit dem Hinweis unterbunden, dies eröffne eine Generaldebatte, die man nicht ohne Erich Honecker beginnen dürfe. Der kehrt am 26. September sichtlich angeschlagen zurück und hält die DDR weiter für einen Staat der bewältigten Probleme.
Dabei gründet die unverkennbare Staatskrise mehr denn je auf einem durch politische Entscheidungen ausgelösten Systemversagen. Dem sozialen Leistungsvermögen der DDR kommt zusehends eine adäquate ökonomische Basis abhanden. Dramatisch verändert hat sich das Verhältnis zwischen Akkumulations- und Konsumtionsrate, also den Mitteln, die aus dem Bruttoinlandsprodukt (BIP/in der DDR: Gesellschaftliches Gesamtprodukt) zur qualitativen Erneuerung des Produktionspotenzials dienen, und denen, die gesellschaftlichem Verzehr anheimfallen. Zu den konsumtiven Ausgaben zählen Löhne und Gehälter sowie die Aufwendungen für Kultur, Bildung, Preissubventionen, einen extensiven Wohnungsbau usw. Als Honecker 1971 Walter Ulbricht als SED-Parteichef ablöste, stand einer Akkumulationsquote von 27,9 Prozent eine der Konsumtion von 72,1 Prozent gegenüber. 1988 liegt das Verhältnis bei 21 zu 79, woran besonders alarmierend ist, dass die Rate für produktive Investitionen – also jenen, die als Wachstumsfaktor unverzichtbar sind – nur noch 9,9 Prozent des BIP ausmacht.
Allerdings urteilt zu pauschal, wer der DDR attestiert, sie habe seit dem VIII. SED-Parteitag 1971 stets über ihre Verhältnisse gelebt. Viele Ressourcen, die für soziale Zwecke eingesetzt werden, sind real erwirtschaftet, doch in welchem Ausmaß man sie verbraucht – sprich: konsumiert –, darunter leidet die Modernisierung der Ökonomie in einem Augenblick, da sich die Mikroelektronik als maßgeblicher Wachstumsfaktor etabliert. Als sich das Mitte der 80er Jahre abzeichnet, droht der sozialistische Wirtschaftsraum international endgültig abgehängt zu werden. Die Arbeitsproduktivität der Staaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) liegt bei 53 Prozent des Wertes der OECD-Staaten. 1987 verbucht der RGW ein Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung, das nur noch bei 44 Prozent dessen liegt, was in der OECD zur Verfügung steht. Diese Angaben stammen keineswegs aus westlichen Quellen, sie werden u. a. von der Akademie für Gesellschaftswissenschaften in Ostberlin dem SED-Politbüro zugeleitet und sind ein Vorgriff auf den ernüchternden Kassensturz, der mit dem „Schürer-Bericht“ (benannt nach dem Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission) am 30. Oktober 1989 vorliegen wird – als nicht alles, aber vieles schon zu spät ist. Man weiß schließlich um Lenins Voraussage vom April 1918 (aus: Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht), dass die Arbeitsproduktivität „in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung“ sein werde. Oder „das Ausschlaggebende“ für deren Niedergang. Mit anderen Worten, unabhängig davon, ob und wie die DDR das Jahr 1989 übersteht, erwartet das Land eine ökonomische Durststrecke, die letzten inneren Halt kosten kann.
Zu den 45 Unterzeichnern des Appells der Rockmusiker zählt auch Tamara Danz von der Gruppe Silly, die mit ihrem 1989 aufgelegten Titel SOS auf einem „gebrauchten Narrenschiff“ unterwegs ist und vom „Mann im Ausguck“ erzählt, der immer noch „einen Silberstreif zu sehn“ glaubt, während man auf einen Eisberg zuhält, von dem „nur die Spitze ist zu sehn“. Ein Ausweichen wäre denkbar, nur findet sich keiner, der das Steuer herumreißen kann.
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