1990: Totenstiller Lärm

Zeitgeschichte Während die letzte DDR-Regierung antritt, zeigt Heiner Müller am Deutschen Theater einen Hamlet, der gegen seine Natur versucht, ein Subjekt der Geschichte zu sein
Ausgabe 13/2020

Auferstanden aus Ruinen / und der Zukunft zugewandt / lass uns dir zum Guten dienen / Deutschland, einig Vaterland.“ Man hätte sie im Brustton der Überzeugung wieder singen können, die DDR-Nationalhymne mit den Versen von Johannes R. Becher und der Musik Hanns Eislers, entstanden 1949 im Auftrag des Präsidenten Wilhelm Pieck. Da die Grenze keine mehr ist, treibt diese Hymne nicht länger im Zeitstrom dahin. Sie scheint vielmehr auf der Höhe der Zeit. Wohlgemerkt: scheint. 1949 ist mit „Deutschland, einig Vaterland“ ein antifaschistisches, möglichst sozialistisches Volksdeutschland gemeint, was 1990 weniger zu erwarten steht.

Insofern halten es die in Ostberlin ab Mitte April regierenden Allianzparteien CDU-Ost, DSU und Demokratischer Aufbruch sowie SPD und Freie Demokraten für geboten, Bechers „einig Vaterland“ zu verschmähen. Was den Verdacht auf einen versöhnlichen Umgang mit der DDR und Zweifel am Einheitsdrang weckt, gilt als suspekt.

Die Wahl vom 18. März 1990 hat mit der 10. DDR-Volkskammer zu einer Legislative geführt, deren Mehrheit dieses Parlament so bald wie möglich abschaffen will. Es tritt der historisch einmalige Zustand ein, dass einem Staat nur noch so viel Existenz zugestanden ist, wie gebraucht wird, ihm die Existenz zu nehmen. Seinen Institutionen – Regierung, Parlament, lokale Verwaltung, Gerichte, Armee, Polizei –, die normalerweise Erhalt und Funktionalität eines Staates sichern, ist es bestimmt, dessen Abwicklung zu garantieren, um selbst abgewickelt zu werden. Nicht allein die Hymne verfällt dem Verdikt, ein Relikt der Vergangenheit zu sein, Gleiches gilt für das Staatsemblem Hammer, Zirkel, Ährenkranz, das als Hoheitszeichen ausgedient hat und daher im Plenarsaal der Volkskammer demontiert, anderswo verhängt oder verschandelt wird.

Auch will die künftige DDR-Regierung, zu der sich jene große Koalition zusammenfindet, nicht auf die DDR-Verfassung vereidigt sein. Um das zu erreichen, braucht es am 12. April in der Volkskammer zwei Abstimmungen. Nachdem die erste scheitert, da die Mehrheit verfehlt wird, gibt es unter Missachtung der Geschäftsordnung ein zweites Votum, das mit 209 Ja- gegen 134 Nein-Stimmen (24 Enthaltungen) wie gewünscht ausgeht. Die Minister werden nun schwören, im Einklang mit ihrem Gewissen zu handeln und, falls sie das wollen, mit der Formel „so wahr mir Gott helfe“ abschließen. Keine Katastrophe, nur konsequent. Schließlich soll der Osten Deutschlands zurückkehren in die europäische Tradition des Klassenstaates. „Freiheit statt Sozialismus“, das war die suggestive Parole der CDU-Ost im Wahlkampf. Welchen Sinn sollte es da haben, auf eine Magna Charta verpflichtet zu werden, deren Artikel 1 die DDR als sozialistischen Staaten der Arbeiter und Bauern definiert?

„Nacht, bestirnter Himmel. O dieser totenstille Lärm“; im Deutschen Theater hat – während die letzte DDR-Regierung ausgehandelt wird – Heiner Müllers Hamlet/Maschine Premiere. Damit die Gewissheit nicht zu kurz kommt, welch monströsen Gefahren die Menschheit ausgesetzt ist und sich selbst aussetzt, hängt ein an seinen Ketten zerrendes Brückengleis über Bühne und Zuschauerraum. Hamlet, der versucht, ein gegen seine Natur handelndes Subjekt der Geschichte zu sein, könnte davon erschlagen werden, jederzeit und zuverlässig. Lohnt es sich, unter solchem Himmelszelt, ein Mörder zu sein?

Die DDR-Sozialdemokraten müssen sich das nicht fragen, sie legen lieber Hand an sich selbst und wollen regieren, auch wenn der Partei mehr als nur das schlechte Wahlergebnis vom 18. März in den Kleidern hängt. Sie muss erfahren, wie Vorwürfe lauter werden, Parteichef Ibrahim Böhme habe der Staatssicherheit als IM „Maximilian“ zugearbeitet. Ist der Vorstand zunächst um den Eindruck bemüht, die Partei befalle großes Unbehagen beim Gedanken an eine Große Koalition mit der DDR-Blockpartei CDU, schwinden die Bedenken, als Böhme gehen muss und der rechte Parteiflügel um den Theologen Richard Schröder und Parteivize Angelika Barbe den Regierungseintritt anbahnt. Anfang April schon spricht man mit der CDU über die zu verteilenden 24 Ministersessel. Für das retardierende Moment wiederum fühlt sich die DSU zuständig, die das Amt des Staatspräsidenten beansprucht, was DSU-Generalsekretär Peter-Michael Diestel damit begründet, dass seine Partei „den Wahlerfolg der CDU organisiert“ habe. „Über uns hat die ehemalige stalinistische CDU die Jungfräulichkeit erhalten, um in der Wahl überhaupt erst antreten zu können.“

Am 12. April werden Premier Lothar de Maizière und seine Minister vereidigt, ein Ensemble lupenreiner DDR-Biografien, gehobener Mittelbau mit akademischem Einschlag, wenig Widerständiges, bestenfalls Regimekritisches, zieht man die kirchliche Laufbahn einiger SPD-Minister in Betracht. Unter den Ressortchefs finden sich mit Justizminister Kurt Wünsche (Freie Demokraten) Überlebende aus der Regierung Modrow und mit de Maizières Kanzleichef Klaus Reichenbach ein ehemaliger Betriebsdirektor (VEB Goldfasan Burgstädt), der 1987 zum CDU-Bezirkschef für Karl-Marx-Stadt aufsteigt. Arbeitsministerin Regine Hildebrandt (SPD) leitet seit 1978 die Zentralstelle für Diabetes und Stoffwechselkrankheiten in Ostberlin. Karl-Hermann Steinberg (CDU), Minister für Umweltschutz und Reaktorsicherheit, wird 1982 zum Ordentlichen Professor an der Karl-Marx-Universität Leipzig berufen. Bauminister Axel Viehweger (Freie Demokraten) promoviert 1985 und ist seither Stadtrat in Dresden. Als sich das Kabinett im Haus der Ministerrats zum Gruppenbild vor DDR-Emblem aufstellt, ruft ein Journalist: „Was halten Sie vom Hintergrund?“ – „Der wird auch noch verschwinden!“, tönt es aus der Ministerrunde. Im Deutschen Theater raunt Hamlet, „dass wir die Übel, die wir haben, lieber ertragen, als zu unbekannten fliehen“. Nur wer lässt sich aufhalten in galoppierender Flucht?

Am 12. April, dem Tag des Regierungsantritts, veröffentlichen einige DDR-Zeitungen das Foto von einem Belegschaftsmeeting bei VEB Stern-Radio Berlin, dazu die Fragen: „Pleite unausweichlich? Bald 1.500 Kollegen auf der Straße?“ Die Unterhaltungselektronik aus dem Westen ist billiger und begehrter. Stern-Radio bleibt auf seinen Plattenspielern und Kassettenrecordern, vor allem dem Radioklassiker R160 mit Holzverkleidung, sitzen wie die Schokoladenrührer von Elbflorenz auf ihren Pralinen. Die meisten Stern-Radio-Mitarbeiter – die Männer im Arbeitskittel, die Frauen mit Arbeitsschürze – halten die Arme verschränkt. Man sieht ernste, ratlose, trotzige, betretene, leere Gesichter – für Jahre der Standard, wenn ein Betrieb geschlossen oder die Treuhand belagert wird. Freilich drohen sich Gesichter zu verlieren, wenn sie einander zu sehr gleichen. So wird vor jeder Hamlet-Aufführung das Parkett im Deutschen Theater in einem grünlich schimmernden Zwielicht ausgeleuchtet. Wer seinen Platz sucht, tut das mit der immer gleichen Gesichtsfarbe, als seien die Menschen Wasserleichen.

Ist 1990 das Beharren auf DDR-Identität noch etwas wert? Was sich davon behauptet, bleibt ohne festen Gegenwillen, weil die DDR keine Alternative mehr ist, in deren Namen sich Hoffnung sammeln könnte. Es kommt hinzu: eine Identität, die sich auf das nicht mehr Vorhandene beruft, an dessen Verschwinden aber selbst beteiligt war durch die Wahlentscheidung vom 18. März oder die duldende Hinnahme des DDR-Niedergangs zuvor, gleitet schnell ins Rumorende, Irrationale und Aggressive ab. Um nicht amorph und deshalb hilf- oder ziellos zu bleiben, kann, nein, wird später nationalistisch gefärbter Nihilismus die Folge sein.

Shakespeares Hamlet endet als von sich selbst verführte Kreatur im Duell, Müllers Hamlet/Maschine endet mit einem Feuersturm, der das Brückengleis trunken baumeln lässt …

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