Trotz aller städtebaulichen Heilslehren, die ihm Anfang der 1990er Jahre ans Zeug wollen, residiert der Ostberliner Fernsehturm ungerührt über der Stadt. Und das in der respektablen Höhe von 370 Metern, die einen Panoramablick der wechselnden Perspektiven bietet. Schließlich steht die Kuppel nie still und bewegt sich stündlich einmal um den Turm. Am späten Nachmittag des 15. Dezember 1990, an den hier erinnert werden soll, ist im Erdgeschoss der Aufsteller mit dem Schild „Geschlossene Gesellschaft“ aus dem Fundus seliger DDR-Zeiten aufgetaucht. Im Panorama-Restaurant hoch droben steigt gegen 18.30 Uhr die „Umschaltparty“. Wer die sich antun will oder muss und das über Stunden (wie der Autor), kann fünf bis sechs Runden über Berlins vorweihnachtlich angehauchter Glitzercity drehen. Der Schauplatz ist mit Bedacht gewählt, der Fernsehturm zum Hochstand über den Jagdgründen der deutschen Medieneinheit erkoren, die sich ihrer Trophäen nicht zu schämen braucht. Verteilt werden diese wie üblich: Was der Westen will, nimmt er sich.
Zweieinhalb Monate nach dem Untergang der DDR am 3. Oktober ist auch das Ende ihrer Fernsehherrlichkeit fällig, die Verteilung der Claims als Bescherung angesagt. Wofür der Einigungsvertrag genügend Handhabe bietet, sodass der „Rundfunkbeauftragte“ Rudolf Mühlfenzl (CSU), eine Art Generalexekutor für die Liquidierung des zentralen Hörfunks und Fernsehens der DDR, aus dem Vollen schöpfen und ARD wie ZDF mit zusätzlichen Sendefrequenzen, Einfluss, Macht, Jobs, Mehrwert aus Gebührenfressnapf und Werbung beglücken kann. Die ARD erhält den Kanal zugesprochen, auf dem bis zu diesem 15. Dezember und damit 38 Jahre lang das erste Programm des Deutschen Fernsehfunks (DFF), sprich: des Ostfernsehens, ausgestrahlt worden ist. Dessen Frequenz kassieren, heißt diesen Sender eliminieren. Der Coup sichert der ARD eine mehr als flächendeckende Präsenz im Osten. In der westlichen und mittleren DDR, wo das Programm schon immer zu empfangen war, kann man es nun auf zwei Kanälen (!) sehen. Die bisher unterversorgten Ahnungslosen im Lausitzer und sächsischen Revier finden sich fortan „grundversorgt“. Gegenüber dem ZDF, das im Vorfeld des Frequenzgeschachers lauthals über Wettbewerbsverzerrungen zu klagen wusste , hat sich Mühlfenzl bereits am Tag vor der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl vom 2. Dezember spendabel gezeigt. Die Anstalt kann von diesem Tage an auf einer dritten, bis dato nicht genutzten Sendefrequenz im Osten ausstrahlen, sodass dem Mainzer Fernsehen Omnipräsenz von Graal-Müritz bis Zittau sicher ist. Was übrig bleibt – die Frequenz von DFF-2, des zweiten Programms aus dem Ostberliner Sendezentrum Adlershof –, wird bei einer Gnadenfrist von maximal einem Jahr einer „DFF-Länderkette“ zuerkannt, wie Mühlfenzl in Anspielung auf den föderalistischen Zuschnitt des öffentlichen-rechtlichen Fernsehens West die Resteverwertung Ost nennen lässt.
Derartige Fischzüge brauchen die nötige Optik, sodass die Turmparty mit Personal aus dem DFF angereichert wird. Gesamtdeutsch soll ausschauen, was sich abspielt. Bis es so weit ist, darf dank der großzügig in der Kuppel aufgereihten Monitore das laufende ARD-Programm bestaunt werden. Kurz vor dem Umschaltmoment fragt eine aufgeräumt plappernde ARD-Reporterin im „Kindchen, nun nimm es nicht so schwer“-Sound, wie denn gerade „die Stimmung“ im Adlershofer Sendezentrum ausfalle. Sei man tieftraurig oder auch ein bisschen froh oder gar „todfroh“, wie Rudolf Mühlfenzl sich ausdrückt. Die schwatzhaft Arglose gerät an Petra Kusch-Lück, letzte Programmansagerin für „das Erste“ beim DFF. Was ist das für ein Gefühl, wenn man gleich abgeschaltet wird, kurzes Bildrauschen, Schwarzblende – und dann peng, Schluss! Frau Kusch-Lück versagt die Stimme, offenbar setzt ihr die Anspruchslosigkeit der Frage mehr zu, als sie verkraften kann. Sie weint und wird ausgeblendet.
Trotz Crevettencocktails und Spanferkel in Aspik am kalten Buffet weinen ein paar Adlershofer Partygäste mit. Aber was soll man machen, die deutsche Fernseheinheit verlangt Opfer, sie kann nicht wählerisch sein, sie darf es nicht. Und bekommt man nicht mehr, als man selbst gibt? Um 19.58 Uhr ist es so weit: Die ARD „geht drauf“, der DFF ist im Bruchteil einer Sekunde ein ganzes Programm los, die stürzende Tiefe des nächtlichen Fernsehturms wirkt plötzlich recht aufdringlich.
Nachdem es passiert ist, wandelt die so reich beschenkte ARD-Prominenz in würdevoll gespielter Teilnahmslosigkeit zwischen den Party-Tischen dahin, schwankende West-Ost-Brücken werden selten betreten. Einsturzgefahr! Welch traumhafter Deal, allein der Sender Freies Berlin (SFB), bis dato in zuverlässig provinzieller Manier kaum mehr als ein Stadtteilsender für Charlottenburg/Westend, steigt zum Landessender Berlin auf und gewinnt ganz Ostberlin als Gebührenzahler hinzu. Was für die ARD noch wichtiger sein dürfte: Man kann die Landesanstalten West mit ihren verkrusteten Proporzapparaten konservieren. WDR, NDR, BR oder SDR sind als Aufbaupaten Ost gefragt. Wer sollte es wagen, während einer wahrlich „historischen Transformation“ deren Reformstau zu beklagen? Die III. Programme im Westen wie die anstehenden Neugründungen im Osten – die Dreiländeranstalt MDR und der Brandenburger Miniatursender ORB – sind auf Vollzeit geeicht. Von der Grund- zur Überversorgung, koste es, was es wolle. Notfalls wird man als öffentlich-rechtliches System steigenden Finanzbedarf reklamieren, den Gebühren auf die Sprünge helfen und sich auf den Verfassungsauftrag berufen. Wer da nicht zur Wünschelrute greift und nach Finanzquellen sucht, ist selber schuld. Wen interessiert es schon, dass allein durch die DFF-Abwicklung in Ostberlin Studiokapazitäten, Kameralager, Übertragungstechnik und sonstiges Equipment im Wert von geschätzt zwei Milliarden DM der Verschrottung entgegensehen? Weil es den ideologisch dekontaminierten Neustart im Osten geben soll, werden Funkhäuser und Fernsehateliers nebst der gebotenen technischen Ausstattung auf die grüne Wiese gesetzt. Was mehr als 1,5 Milliarden DM an Investitionen verschlingt, anfallende Personal- und Produktionskosten nicht mitgerechnet.
Die Turmparty plätschert dahin wie der Wildbach am Forellenhof, dem einstigen ARD-Straßenfeger für die Schmachtfolklore der Vorruheständler. DFF-Intendant Michael Albrecht setzt sich zu den eigenen Leuten, um Trost und Zuversicht zu verstreuen. Das Fernsehen im Osten habe mit diesem Abend mehr gewonnen als verloren, man sei keine Fernsehkolonie, sondern Kooperationspartner. So viel gut gemeinte oder blinde Verklärung ruft im Gedächtnis die Rubrik Erfahrenes und Erlebtes auf den Plan. Im Februar 1990 redeten die ARD-aktuell-Chefredakteure Röhl und Engelkes bei einem Besuch in Adlershof tatsächlich einer fairen, vorurteilsfreien Kooperation das Wort. Postwendend war DFF-Nachrichtenchef Klaus Schickhelm zur Tagesschau nach Hamburg geladen, wo die 20-Uhr-Sendung gar mit einem 45-Sekunden-Clip davon Notiz nahm und zeigte, wie Schickhelm auf dem Allerheiligsten, dem Sprecherplatz von Berghoff und Veigel, sitzen durfte. Auf eine vieldeutige Annäherung folgte die mehr als eindeutige Aversion, als mit der heraufziehenden Einheit die Zerschlagung von Hörfunk und Fernsehen der DDR als beschlossen galt. Kein Jahr nach seinem Adlershof-Trip beeilte sich Röhl, die dortige aktuell-Redaktion als „Verrat an den Zielen der Herbstrevolution von 1989“ zu schmähen, obwohl sie mit der Aktuellen Kamera von einst und deren längst abgelöster Chefredaktion nichts mehr zu tun hatte.
Gegen Mitternacht ist die Party vorbei, der Fernsehturm hat überstanden, was ihm zugemutet war. In den nächsten Jahren wird ringsherum die große Flurbereinigung einsetzen und die City Ost verschwinden lassen, ob es sich um das Palasthotel oder den Palast der Republik handelt. Aus, vorbei, nie wieder.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.