1991: Das Streichholz

Zeitgeschichte In Moskau verkündet vor 25 Jahren ein Notstandskomitee den Ausnahmezustand, um die Sowjetunion vor dem Untergang zu retten. Das Gegenteil wird erreicht
Ausgabe 32/2016
Der russische Präsident Jelzin am 19. August 1991 vor seinem Amtssitz
Der russische Präsident Jelzin am 19. August 1991 vor seinem Amtssitz

Foto: Imago

Es konnte sein, dass Michail Gorbatschow, ein Freund des taktischen Lavierens, Gefallen an der bonapartistischen Verlockung fand. Allerdings musste in der Sowjetunion unverkennbar Endzeitstimmung herrschen, damit es dazu kam. So wurde Anfang November 1991 Verteidigungsminister Jewgenij Schaposchnikow in den Kreml gebeten, um vom sowjetischen Präsidenten mit dem Ansinnen konfrontiert zu werden, die Armee möge die Macht übernehmen, eine Militärregierung bilden, den Staat UdSSR vor dem Verschwinden bewahren und – nach erreichter Stabilisierung – den Rückzug antreten. Das klang kaum nach rationalem Kalkül, mehr nach waghalsigem Abenteuer. Schaposchnikow soll sich mit der Bemerkung aus der Affäre gezogen haben, schreibt der amerikanische Autor William E. Odom in seinem Buch The Collapse of the Soviet Military, dann könne er sich ja gleich – ein forsches Lied pfeifend – in Richtung „Matrosenstille“abmelden.

Im Moskauer Gefängnis Matrosskaja Tischina sitzen um diese Zeit hochkarätige Sowjetpolitiker in Untersuchungshaft, darunter Schaposchnikows Vorgänger, Marschall Dmitri Jasow. Sie haben sich – kein viertel Jahr ist es her – zwischen dem 19. und 21. August 1991 als Rettungskommando für den moribunden Staat versucht und sind gescheitert. Dass der im Spätherbst 1991 weitgehend entmachtete Gorbatschow plötzlich selbst den autoritären Ausweg sucht, scheint zu bestätigen, was einst Karl Marx in seinem 18. Brumaire des Louis Bonaparte über die Wiederholung historischer Geschehnisse schrieb. Das erste Mal ereigneten sie sich als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Was zu der Frage führt, war der „Augustputsch“ vor 25 Jahren eine „Tragödie“? Verdienen es seine Urheber, „tragische Helden“ genannt zu werden, weil sie dem Rad der Geschichte in die Speichen griffen, das sie zu überrollen drohte? War dieser Aufstand der Nomenklatura ein selbstmörderisches Unternehmen, wie heute geurteilt und vollendete Geschichte mit einstiger Gegenwart verwechselt wird?

Es ist ein Sonntag, als am 18. August 1991 die ZK-Sekretäre Oleg Baklanow, Waleri Boldin und Oleg Schenin sowie General Walentin Warennikow zum Kap Foros auf der Krim fliegen. Sie wollen Gorbatschow in seiner Sommerresidenz treffen und drängen, die für den 20. August anberaumte Unterzeichnung des neuen Unionsvertrages aufzuschieben oder ganz abzusagen. Der sieht vor, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) in eine Union Souveräner Staaten (USS) zu überführen. Litauen hat sich davon distanziert, desgleichen Georgien, das Anfang April 1991 seinen Austritt aus der Union erklärt. Estland und Lettland dürften folgen. Da jedoch Belarus, die Ukraine, Usbekistan, Tadschikistan, Armenien, Turkmenistan und Kasachstan einen Staatenbund erhalten wollen, wird es den wohl geben. Woran auch der russische Präsident Boris Jelzin interessiert scheint, der seiner Sowjetrepublik zwar ein Maximum an Souveränität verschaffen, mit der Sowjetunion aber nicht völlig brechen will. Schließlich soll Russlands Anspruch keinen Schaden nehmen, im Fall des Falls ein privilegierter Erbe zu sein, den ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat wie das Kernwaffenarsenal zu übernehmen. Überdies hat am 17. März 1991, beim ersten Referendum der Sowjetgeschichte, eine Mehrheit von 76,4 Prozent für den Erhalt der Union gestimmt.

Die Abordnung aus Moskau wird in Foros vorgelassen, aber vertröstet. Gorbatschow habe mit einem Bandscheibenvorfall zu kämpfen, beim Spaziergang mit Frau Raissa sei es passiert, er müsse den Arzt bemühen. Es dauert bis zur Audienz, die Gorbatschow mit dem schmissigen Einstieg eröffnet, auch wenn man ihm das linke Bein amputiere, werde ihn nichts daran hindern, am 20. August in Moskau zu sein, um den Unionsvertrag zu unterschreiben. Baklanow und Genossen könnten nun getrost zum Airport Belbek fahren und wieder abfliegen. Gorbatschow denkt nicht daran, von einem Vorhaben zu lassen, das den Schwanengesang einer Weltmacht bestenfalls verzögern, nicht bannen wird. Deren Ökonomie nähert sich dem Kollaps und verzeichnet im ersten Halbjahr 1991 einen Produktionsausstoß, der bei 80 Prozent des Niveaus von 1966 (!) liegt. Betriebe werden willkürlich geschlossen oder unterbrechen die Fertigung. In Russland riecht das häufig nach Sabotage. Dazu ist die Armee durch einen überstürzten Abzug aus dem Osten Deutschlands verunsichert. Die geostrategische Parität mit den USA ging ebenso verloren wie das eigene Bündnissystem. Um den Warschauer Pakt ist es seit dem 1. Juli 1991 geschehen. Entgegen aller Rhetorik hat Gorbatschow kein europäisches Haus erbaut, sondern sich durch konziliante Vorleistungen um ein Wohnrecht in einem solchen Haus beworben, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wie sehr das eigene – das sowjetische – in sich zusammenfällt.

Mitwisser, aber lieber kein Täter

All das kommt in Foros zur Sprache. Je alarmierender die von Baklanow und Warennikow beschworenen Katastrophenszenarien ausfallen, desto entrückter wirkt Gorbatschow. Als wollte er nicht wahrhaben, wie sehr ihm entglitten ist, was er zu regieren meint. Wozu in den Abgrund schauen, wenn das zum Absturz führt? Der Ausnahmezustand könnte die Rettung sein, die einzig realistische, wirft Warennikow ein. Gorbatschow steht auf und verabschiedet sich. Er ist nun Mitwisser, will aber kein Täter sein.

Erst als die Emissäre am 18. August gegen 22.00 Uhr wieder in Moskau landen, in den Kreml fahren und bei Sowjetpremier Walentin Pawlow berichten, fällt die Entscheidung, das Staatskomitee für den Ausnahmezustand zu bilden, denselben auszurufen und Gorbatschow aus „gesundheitlichen Gründen“ abzusetzen. Außer Pawlow entschließen sich Vizepräsident Janajew, Verteidigungsminister Jasow, Innenminister Pugo, KGB-Chef Krjutschkow und Parlamentspräsident Lukjanow zum Handeln. Sie stehen auf der Bühne, während der Vorhang fällt. Im Appell des Staatskomitees, den Gennadi Janajew bei einem Auftritt – halb Pressekonferenz, halb Regierungserklärung – am Vormittag des 19. August mit zitternder Hand und Stimme verliest, heißt es: „Die Inflation der Macht zerstört schlimmer als jede andere Inflation unseren Staat und unsere Gesellschaft.“

Zu diesem Zeitpunkt sind Truppen des Moskauer Militärbezirks in die Hauptstadt eingerückt, sie patrouillieren, sichern das Fernsehzentrum Ostankino wie einen Teil der Ministerien. Ihnen ist befohlen, von der Schusswaffe nur im Notfall Gebrauch zu machen. „Die Situation glich der vor dem Anzünden eines Streichholzes neben einem Pulverfass“, wird sich später Marschall Jasow bei seiner Vernehmung erinnern. Als in der Innenstadt Barrikaden errichtet werden und Molotow-Cocktails fliegen, brennt das Streichholz lichterloh, als sich Menschen um das Weiße Haus scharen, damals der Sitz Jelzins, um das Gebäude zu schützen, flackert es noch. Als die Soldaten abziehen und das Staatskomitee am 21. August abdankt, ist es erloschen. Es gibt keine Helden, schon gar keine tragischen, stattdessen drei Opfer, drei junge Moskauer, überfahren von Militärfahrzeugen.

Die Sowjetunion lässt sich im August 1991 nicht mehr retten, jedenfalls nicht so. Die Aufrührer haben den Staatsapparat unabsichtlich gezwungen, Verfall und Ohnmacht zu offenbaren. Boris Jelzin weiß nun, dass Russland die Sowjetunion nicht mehr fürchten muss. Instinktsicher nutzt er die Gunst des Augenblicks, hält sich an den Urlaubsheimkehrer Gorbatschow und verbietet in dessen Gegenwart am 22. August die KPdSU auf russischem Territorium, was einem Verbot des Sowjetstaates gleichkommt. Dem bleibt noch eine Gnadenfrist von vier Monaten. Sie werden zur Farce, weil Gorbatschow als Präsident ausharrt, anstatt zurückzutreten. Warum nicht Marx’ Theorie weiterdenken und auf den Übergang vom tragischen zum komischen Helden beziehen?

Info

Buchtipp: Der Augustputsch 1991. Acht Akteure erinnern sich. Edition Berolina 2016, 256 S., 14,99 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen.

Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zur Wochenzeitung Freitag. Dort arbeitete es von 1996-2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

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