Leere Spulen von Videobändern knallen wie Bowlingkugeln an Türen und Treppengeländer. Was sie sonst straff gewickelt aufbewahren, liegt als Bandsalat herum. Man könnte hindurchwaten, würde aber Gefahr laufen, sich in den Video-Lianen am Boden zu verfangen. Am Abend des 31. Dezember 1991 tobt ein Sturm durch den Studiokomplex S5A des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin-Adlershof. Als er nachlässt, liegt ein Teil des historischen Gedächtnisses einer Nachrichtensendung wie ausgeweidet herum, die jahrelang als Aktuelle Kamera, seit 1990 als Aktuell, ausgestrahlt worden ist. Wer hat randaliert? Waren es Techniker und Cutter, zumeist jüngere Kollegen um die 30? Oder erboste Redakteure? Und was trieb sie an? Vermutlich Wut, Verzweiflung und die Gewissheit, für diesen Sender schon morgen nicht mehr arbeiten zu dürfen. Vom Aufbegehren im Newscenter bleiben auch Wände nicht verschont. Was da in schwarzer Farbe aufgepinselt steht, liest sich wie „AUS“ und „RAUS“ und „AUSVERKAUF“. Die Brust wird eng vom Wort, das man nicht sagt. Locker die Arme vor Tatenzwang.
Ich gehöre hierher, habe bis zum Schluss das Spätjournal moderiert und bin gekommen, um wie alle, die sich das nicht ersparen wollen, Abschied zu nehmen. Als ich eintreffe, ist der Aufruhr im Flur schon vorbei, nur noch die Folgen halten aus. 30 Jahre danach sind die Eindrücke jener Nacht längst auf flüchtige Bilder angewiesen, fast vergessen oder zuverlässig verdrängt? Sich zu erinnern, heißt, in einen Flash bedrängender Szenen zu geraten. Kaum aufgetaucht, sinken sie wieder hinab ins sichere Gewahrsam des nur mehr schwer Auffindbaren.
Zu den Tatsachen: Am letzten Tag des Jahres 1991 sind die Abendnachrichten von 19.30 Uhr die letzte Livesendung aus Berlin-Adlershof. 19.55 Uhr noch der Sport mit der Vorschau auf das Neujahrsskispringen in Garmisch-Partenkirchen, dann das Wetter. Was bis Mitternacht zu sehen ist, kommt aus der Konserve. Das neue Programm des Berliner Kabaretts Die Distel und das Silvestervergnügen in der Rostocker Hafenbar. Hat Kuddeldaddeldu ausspielt, dann auch der Deutsche Fernsehfunk.
Artikel 36 des Einigungsvertrag dekretiert, dass „die Einrichtung“ (damit sind Funk und Fernsehen der DDR gemeint) aufzulösen oder in öffentlich-rechtliche Strukturen der ostdeutschen Länder zu überführen ist. Diese jedoch – Anfang der 1990er-Jahre bis auf Brandenburg ausschließlich CDU-regiert – haben nur Interesse an Technik und Archiv, nicht am Personal oder der Anstalt an sich. Die Option, neben ARD und ZDF den DFF als dritten überregionalen Anbieter ins öffentlich-rechtliche Portfolio zu nehmen, wird im Westen als Zumutung empfunden. Konkurrenz könnte das Geschäft mehr belasten als beleben. Womöglich würden Innovationen angestoßen, die das öffentlich-rechtliche System von seinem Reformstau erlösen. Besser, den Status quo zu pflegen und drei Jahrzehnte später vor die Existenzfrage gestellt zu sein.
Rudolf Mühlfenzl, seit Oktober 1990 auf persönliche Intervention von Kanzler Helmut Kohl als Rundfunkbeauftragter Ost der Vollstrecker von Artikel 36, lässt sich an jenem verregneten Silvestertag, als dem DFF die Stunde schlägt, mit einer Filmklappe im Schoß fotografieren. Darauf steht: „DFF – die Letzte“. Der Generalgouverneur für die Abwicklung des Ostfunks und der Ostfunker sitzt für dieses Motiv vor einer Monitorwand in Adlershof. Die Optik pendelt zwischen Selbstironie und Geltungsbedürfnis des beuteverwöhnten Waidmanns. Während seiner 15 Amtsmonate hat sich Mühlfenzl zuweilen barmendem Selbstmitleid überlassen. Die Drecksarbeit eines Exekutors müsse er übernehmen, Ächtung und Schmach ertragen. Nun aber ist das Werk vollbracht, die Klappe im Schoß bezeugt Tapferkeit vor dem Feind. Dem erlegten Wild einen Fuß auf den noch warmen Leib stellen, das ist der Jäger Brauch. Und kann sich nicht sehen lassen, was zur Strecke gebracht wurde?
39 Jahre und zehn Tage, seit dem 21. Dezember 1952, wurde in Adlershof, später den Filialen Johannisthal (Fernsehspiel) und Grünau (Unterhaltung) Programm produziert. Dank eines Werbevertrages mit der französischen Firma IP von Ende 1989 darf das Ostfernsehen den verschollenen Staat um mehr als ein Jahr überleben. An den magischen 40 Jahren fehlen elf Monate, als der eiserne Vorhang fällt.
Dabei herrscht an Gnadengesuchen kein Mangel. Als Empfehlung gilt der jähe Akzeptanzsprung der Ostmedien nach dem Rücktritt Erich Honeckers am 18. Oktober 1989. Seitdem treibt die Medienwende die politische teilweise vor sich her. Die im DFF intern erstrittene Live-Übertragung der Kundgebung auf dem Ostberliner Alexanderplatz am 4. November 1989 ist erst der Anfang. Die Nachrichtensendung Aktuelle Kamera (AK) verzeichnet Einschaltquoten um die 35 Prozent, mit dem Spitzenwert 62,6 am 8. Dezember, als in der Nacht zuvor ein Sonderkongress der SED die Partei in SED-PDS umbenennt und Gregor Gysi zum neuen Parteichef wählt. Ist diese Zuschauerreaktion ein Beleg dafür, dass in der strauchelnden DDR eine sozialistische Partei noch kein Auslaufmodell ist?
Wie es die DFF-Zuschauerforschung ausweist und die GfK-Fernsehforschung in Nürnberg bestätigt, ändert sich am Zuspruch für das Adlershofer Programm bis Mitte 1990 nicht viel. Allein in den Wochen vor der Volkskammerwahl am 18. März gibt es für die AK Einschaltquoten zwischen 28 und 42 Prozent, in absoluten Zahlen 3,6 bis 5,5 Millionen Zuschauer. Auf eine ähnliche Resonanz stößt das Ende Oktober 1989 ins I. Programm genommene Donnerstagsgespräch, das sich den Umbrüchen in der DDR widmet und eine Sehbeteiligung von im Schnitt 29 Prozent (3,6 Millionen Zuschauer) verbuchen kann.
Um diese Zeit sind Hörfunk und Fernsehen längst kein „Staatsfunk“ mehr. Der Medienbeschluss der Volkskammer vom 5. Februar 1990 besiegelt die Unabhängigkeit von Regierung und Parteien. Allein der DFF hebt zwischen 1989 und 1991 64 neue Formate in sein Programm, obwohl eine realistische Perspektive fehlt und der Haushalt nicht mehr vom Staat garantiert, sondern selbst zu erwirtschaften ist. Zum Springquell der Erneuerung wird das häufig von den Belegschaften gewählte Leitungspersonal, mit dem oft Kolleginnen und Kollegen zurückkehren, die zuvor geschasst wurden oder selbst ausscheiden wollten, weil sie eine reglementierte Kreativität nicht länger ertragen konnten.
Anfang 1991 stellen die Demoskopen von Infas & Partner den Ostdeutschen die Frage: Welche Fernsehstation bietet Ihnen die beste Orientierungshilfe, wenn sich Lebens- und Arbeitsverhältnisse so fundamental ändern, wie das gerade passiert? Dem ZDF bescheinigen das 15, der ARD 26 und dem DFF 29 Prozent. Ein Vertrauensbonus für Adlershof, der allerdings nicht zur Empfehlung taugt, sondern mögliche mediale Gegenwehr andeutet, wenn im Osten der industrielle Kahlschlag grassiert. Pluralität zu proklamieren, bedeutet nicht, sie auch riskieren zu wollen.
Gut drei Wochen nach der letzten Sendenacht bin ich wieder in Adlershof, um für einen Dokumentarfilm über den DFF interviewt zu werden. Der Zerstörungsfuror hat sich nach außen verlagert. Vor einem Seitenflügel des Komplexes S5A, in dem die Auslandsredaktion untergebracht war, türmt sich Mobiliar: Schreibtische, Stühle, Schränke, Regale. Offenbar hat ein Räumkommando seine Runde und kurzen Prozess gemacht. Auch beim Umgang mit Volksvermögen im Osten gilt das Prinzip: Nichts darf bleiben, wie es war. In der Senderegie des einstigen Nachrichtenstudios sind die Pulte für den Ton- und Bildschnitt ausgeschlachtet, zu Skeletten aus Holz oder Furnier geworden. Allein die Tasten der Telefone leuchten weiter einsatzfreudig. Über den Monitoren, auf denen einst die Vorschaubilder der Bandmaschinen, zugeschalteter Korrespondenten oder des internationalen News-Austauschs anlagen, rückt der Sekundenzeiger der Studiouhr lautlos, aber beständig über das Zifferblatt. So viel wurde angehalten und abgeschaltet, die Zeit nicht.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.