1996: Der Spielverderber

Zeitgeschichte Das Buch des amerikanischen Soziologen Daniel Goldhagen „Hitlers willige Vollstrecker“ stößt in Deutschland auf teils vehemente Ablehnung und sorgt für viel Unbehagen
Ausgabe 13/2016

Da bohrt sich ein Stachel ins Mark fragwürdiger Gewissheiten und ein als geregelt geltendes Geschichtsbild wirkt plötzlich angekratzt. Mitte April 1996 erscheint eine Studie des US-Soziologen Daniel Jonah Goldhagen zu den Tätern der Shoa als Vorabdruck im Wochenblatt Die Zeit. Kurz darauf bringt der Siedler-Verlag das Buch Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust heraus. Es basiert auf der mit etlichen Auszeichnungen bedachten Dissertation Goldhagens und stößt auf vehemente, teils ressentimentgeladene Abwehrreflexe bei Historikern, Publizisten, der deutschen Öffentlichkeit überhaupt. Die Anwürfe können so weit gehen, dem Autor unter Verweis auf dessen jüdische Herkunft einen „umgekehrten Rassismus“ zu unterstellen.

In den Augen seiner Kritiker hat sich Goldhagen zu einem Sakrileg verstiegen, indem er „den Deutschen“ bescheinigt, ihr „bösartiger Antisemitismus“ sei „die zentrale Triebkraft für den Holocaust“ gewesen. Der NS-Rassenwahn habe sich in seinem barbarischen Kalkül darauf verlassen können. Von dieser Überzeugung beseelt, hat sich Goldhagen bei der Täterfrage nicht mit den üblichen Steckbriefen abspeisen lassen, auf denen steht: Die verbrecherische Führung des NS-Staates war zuständig, das Personal der Vernichtungslager, die Einsatzgruppen des Reichssicherheitshauptamtes in der Sowjetunion und anderswo – fanatische Überzeugungstäter eben.

Goldhagen schreibt, er wolle den Tätern ihre Identität zurückgeben und verwahrt sich dagegen, sie einfach „Nazis“ zu nennen, statt sie als das zu bezeichnen, was sie zunächst einmal waren: „nämlich Deutsche“, die im Namen Deutschlands und seines nicht eben unpopulären Führers töteten. Weshalb sei es nie dazu gekommen, die genaue Zahl all derer zu ermitteln, „die wissentlich einen Beitrag zum Völkermord leisteten“? Weil das Außerordentliche ihres Anteils an der Shoa verkannt wurde? Goldhagen insistiert: Was die Vollstrecker taten, „taten sie Menschen mit ganz unverwechselbaren Eigenschaften an und nicht Tieren oder Dingen“. Die in seinem Buch protokollierte, kaum je vollends aufgeklärte, nie wirklich gesühnte Verantwortung für die Shoa ist geeignet, die Kollektivschuld-These zu beleben. Auch wenn der Autor schon in der Einleitung bekennt: „Die Vorstellung einer Kollektivschuld-These lehne ich kategorisch ab“ , deutet er doch mehr als nur an, dass es eine solche Schuld gibt. Was Folgen hätte. Dazu müsste die Einsicht in das kollektive Versagen eines Volkes ebenso gehören wie eine Suche nach Ursachen, die sich weder mit Sozialpsychologie noch Verweisen auf nationale Mentalitäten begnügt. Darin wurzelt die Brisanz dieses Buches: Der Verfasser legt den deutschen Lesern nahe, ihr wart nach 1945 auf der Asche der Shoa unterwegs. Und ihr seid es weiter, solange nicht erschöpfend geklärt wird, warum die Deutschen der antisemitischen Versuchung derart erlegen sind.

Die immer gleichen Botschaften

Es fällt nicht schwer, Belege zu finden, die Goldhagens These stützen, wonach Antisemitismus zwar die gesamte europäische Kulturgeschichte durchzog, aber nur in Deutschland zum eliminatorischen Exzess werden konnte. Man denke an den Historiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) und seinen Satz in einer 1879 veröffentlichten Schrift: „Die Juden sind unser Unglück.“ Ein Zeitgenosse, der Verleger Theodor Fritsch (1852-1933), ließ 1907 in seinem Hammer-Verlag ein Handbuch der Judenfrage (1907) drucken, das zum viel gelesenen Katechismus der Judenhasser wurde. Fritsch war zudem Mitbegründer der völkischen Thule-Gesellschaft. Oder man nehme Oswald Spenglers (1880-1936) Der Untergang des Abendlandes mit seiner antijüdischen Weltsicht.

Dabei blieben die Botschaften immer gleich: Sich des Juden zu erwehren, heiße den Kampf ums Dasein führen. Man müsse den deutschen Volkskörper gegen das parasitär Fremde schützen. Dies sei darauf aus, ihn auf Dauer zu schädigen. Rassenhygiene traf auf Sozialdarwinismus, und Hitler konnte ernten, was längst gesät war, als er 1924 in seiner Programmschrift Mein Kampf formulierte: „Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein.“

Gewiss fand sich der Antisemitismus weder im Kaiserreich noch in der Weimarer Republik zur Staatsräson erhoben, doch prägte er einen gesellschaftlichen Unterbau, der stimmungsrelevante Milieus ebenso erfasste wie Teile der Mehrheitsgesellschaft. Vaterländische Politiker gefielen sich darin, die Weimarer Republik als Werk „jüdischer November-Verbrecher“ zu geißeln und empfanden es als nationale Schmach, dass der liberale Kanzler Joseph Wirth im Mai 1921 den jüdischen Industriellen Walther Rathenau zunächst zum Wiederaufbau- und dann zum Reichsaußenminister berief. Rathenau hatte es am Nachweis einer patriotischen Gesinnung nie fehlen lassen. Ab August 1914 sorgte er als Chef der Kriegsrohstoffabteilung im preußischen Kriegsministerium dafür, dass die kaiserliche Armee nicht schon 1915 kapitulieren musste, weil ihr Material und Munition ausgingen. Nun aber, im Frühsommer 1922, wurde in Berlin geflüstert: „Knallt ab den Walther Rathenau, die gottverdammte Judensau“, bis Fememörder der Organisation Consul (OC) den „Volkszorn“ erhörten und Rathenau am 24. Juni 1922 auf der Fahrt zu seinem Ministerium umbrachten.

Hinterließ das einen Schock? Keineswegs, die Deutsch-Nationale Volkspartei (DNVP) – keine Splittergruppe, sondern Sprachrohr des nationalkonservativen Bourgeois – nahm Ende 1922 einen Passus in ihr Programm, der mit „Kampf gegen die Vorherrschaft des Judentums in Regierung und Öffentlichkeit“ überschrieben war. Dabei blieb es bis zum Januar 1933, bis zur Koalition mit der NSDAP, als dieser „Kampf“ hemmungslos geführt werden konnte.

Bevor dieser Exkurs endet, sei noch die Novemberrevolution in Bayern angeführt, die als „jüdisch-bolschewistische Verschwörung“ verschrien war, weil daran jüdische Intellektuelle wie Gustav Landauer, Erich Mühsam und Kurt Eisner teilhatten. In seinem Revolutionstagebuch von 1919 Man möchte immer weinen und lachen in einem erinnert sich der Romanist Victor Klemperer an die antisemitische Obsession, von der das Münchner Bürgertum befallen sein konnte. Als Privatdozent musste er Antrittsbesuche bei Honoratioren der Universität hinter sich bringen. Einige fielen in die Zeit kurz nach dem 21. Februar 1919, jenem Tag, an dem Graf von Arco auf Valley, Korpsstudent aus dem Dunstkreis der Thule-Gesellschaft, den bayrischen Ministerpräsidenten Eisner mitten in München erschossen hatte. Klemperer berichtet von der Pflichtvisite beim Historiker Joachimsen, als er im Gespräch den Eisner-Mord beklagt habe, sei die Hausherrin in Hysterie verfallen: „Sie wagen es, den Grafen einen Mörder zu nennen? Aber er hat sich für uns geopfert, er hat uns von dem Galizier befreit. Ich verehre ihn wie einen Erlöser und bin es nicht wert, ihm die Schuhriemen zu lösen.“

Bezogen auf spätere Täter befasst sich Goldhagen in seinem Buch nicht mit der SS oder dem SD, sondern den vielen Bataillonen von zuletzt 310.000 Mann Ordnungspolizei, die sich an Razzien, Transporten wie der Erschießung von Juden beteiligten. „Sie waren nicht ideologisierter als die deutsche Bevölkerung“, so der Autor, „insofern repräsentativ für die nazifizierte Gesellschaft.“ Er beschreibt als exemplarischen Fall von vielen, wie sich das Polizeibataillon 309 am 27. Juni 1941 beim Einmarsch im sowjetischen Bialystok verhielt. Die Juden der Stadt wurden aus ihren Häusern vor die Hauptsynagoge getrieben. Wer bis dahin noch nicht erschossen war, sollte in seiner spirituellen Heimat vernichtet werden, also schoben die Polizisten alle in das Gotteshaus und zündeten es an. Es gab an diesem Tag in Bialystok etwa 2.200 Tote. Der Befehl hatte gelautet, die jüdische Bevölkerung zu deportieren. Den sich plötzlich als Weltanschauungskrieger fühlenden Polizisten war das offenkundig zu wenig.

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