1999: Stahlhelm-Pazifisten

Zeitgeschichte NATO-Jets greifen Jugoslawien aus der Luft an. Und Deutschland ist dabei, als wieder Krieg geführt wird in Europa. Die 1945 erzwungene historische Pause hat ein Ende
Ausgabe 11/2019

In einem vertraulichen Lagebericht des Verteidigungsministeriums in Bonn vom 23. März 1999, 15.00 Uhr, heißt es: „Das Anlaufen einer koordinierten Großoffensive der serbisch-jugoslawischen Kräfte gegen die UÇK (Kosovo-Befreiungsarmee, L.H.) im Kosovo kann bislang nicht bestätigt werden.“ Zwölf Stunden später fallen die ersten Bomben auf Restjugoslawien, bestehend aus Serbien und Montenegro. Der Krieg ist zu sehr gewollt und herbeigeredet worden, als dass er abgesagt werden kann, weil eine „Großoffensive“ ausbleibt. In der Lageanalyse steht weiter, die UÇK werde versuchen, durch „Hit-And-Run-Aktionen serbisch-jugoslawische Kräfte zu massiven Reaktionen zu provozieren in der Hoffnung, dass diese […] ein Ausmaß annehmen, dass sofortige Luftschläge der NATO heraufbeschwört“.

Genauso kommt es. In Deutschland, das sich an den Angriffen beteiligt, wird die Heimatfront für eine Kriegslüge in Haftung genommen. Sie ist dazu vergattert, an einen unvermeidlichen, vor allem gerechten Waffengang zu glauben. Wer sich weigert, dessen politische Zurechnungsfähigkeit steht in Frage. Übergangslos zeigt sich, wie dünn die Glasur zivilisierter Umgangsformen sein kann, wenn eine Regierung wie die damalige rot-grüne vom Kriegführen aus vollem Herzen überzeugt ist, aber mit den vorgebrachten Begründungen nicht überzeugt.

Als vaterlandsloser Geselle wird behandelt, wer wie Gregor Gysi nach Belgrad fährt, um mit dem jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević zu sondieren, was dessen Regierung tun kann, damit die NATO ihre Angriffe beendet. Als der PDS-Fraktionschef am 15. April 1999 im Bundestag über seine humanitäre Mission, die eine humanitäre Katastrophe aufhalten soll, zu sprechen versucht, schlagen ihm Wut und Hass entgegen. Das Gros der Abgeordneten hört nicht zu, sondern wirkt wie ein entfesselter Mob, der einen Andersartigen jagt. Was Gysi widerfährt, ist die Konsequenz eines Verdikts: Zwar hat noch Ende 1995 US-Präsident Clinton mit Milošević den Vertrag von Dayton ausgehandelt, der zu einer nicht befriedigenden, jedoch befriedenden Lösung für das umkämpfte Bosnien-Herzegowina führt, nun aber ist der Serbe zum Schurken und Scheusal erklärt, aus dem Klassement des Zumutbaren verstoßen und zum Abschuss freigegeben wie später Saddam Hussein, Gaddafi oder Assad. Ein Mensch wird zur Kreatur – das gebieten Moral und Anstand, die im Westen, in der NATO, in Deutschland siedeln. Wo sonst?

Es wiederholt sich das propagandistische Muster vieler Kriege, besonders aber der beiden Weltkriege. Sprich einem Feind das Menschsein ab, und es fällt dir leichter, ihm das Menschenrecht auf Leben zu nehmen. Was kann hilfreicher sein als die gesinnungsethisch gesalbte Verdammung, wenn sich Deutschland darüber im Klaren werden muss, dass die 1945 erzwungene historische Pause der Kriegsabstinenz vorbeigeht? Kanzler Schröder (SPD) skalpiert in einer Fernsehansprache am 24. März 1999 Logik und Wahrheit, wenn er sagt: „Wir führen keinen Krieg, aber wir sind aufgerufen, eine friedliche Lösung im Kosovo auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen.“ Mehr als 3.500 Opfer der Bombardements werden am Ende bezeugen, wie friedlich die Lösung ausfiel. Schröder teilt ebenso mit, es gäbe im Frühjahr 1999 „die systematisch geplante Deportation eines Teils der Bevölkerung des Kosovo“, daher müsse man handeln.

Im Sommer 1995 waren durch die Armee des kroatischen Präsidenten Franjo Tuđman etwa 150.000 Serben aus der Krajina, einer serbischen Enklave in Kroatien, gewaltsam vertrieben worden – es gab zahlreiche Todesopfer. Seinerzeit rafften sich weder die Regierung aus CDU/CSU und FDP noch die oppositionelle SPD zu Protestnoten an Zagreb auf, geschweige denn wurde eine Bombardierung Kroatiens durch die NATO angeregt .

Noch im November 1998 hat das Auswärtige Amt in einem Gutachten eingeschätzt, kosovo-albanischen Asylbewerbern in Deutschland sei eine Rückkehr in die Heimat zuzumuten, da die Gefahr serbischer Repressionen, „als gering einzustufen ist“. Kein halbes Jahr später wird das Kosovo als Hölle auf Erden beschworen, in der sich serbische Milizionäre als Schlächter austoben. SPD-Verteidigungsminister Rudolf Scharping verbreitet die Geschichte vom Fußballstadion in der Kosovo-Hauptstadt Priština, das von Serben als KZ für Kosovo-Albaner missbraucht werde. Am 28. März sagt er mit bebender Stimme auf einer Pressekonferenz, „wenn ich höre, dass man die Eltern und die Lehrer von Kindern zusammentreibt, und die Lehrer vor den Augen der Kinder erschießt, … dann ist da etwas im Gange, wo kein zivilisierter Europäer mehr die Augen zumachen darf ...“ Später erweist sich der KZ-Horror als reine Erfindung, tatsächlich dient das Spielfeld als Landeplatz für serbische Hubschrauber, nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Bald darauf kursiert das Beweismittel „Hufeisenplan“, der Anfang April innerhalb der NATO wie von der Regierung Schröder präsentiert wird. Danach soll die serbische Armee schon im Oktober 1998 damit begonnen haben, albanische Zivilisten aus ihren Dörfern zu vertreiben. Nur stammen die dafür als Beleg verbreiteten Bilder vom April 1999, als die NATO schon mehr als 6.000 Einsätze hinter sich hat. Es bleibt schließlich dem grünen Außenminister Fischer vorbehalten, die Rechtfertigung des NATO-Luftkrieges auf die Spitze zu treiben, indem er das Jahrhundertverbrechen von Auschwitz bemüht. Es dürfe im Kosovo kein zweites Auschwitz geben. Was heißt das? Wird im Namen einer selbstgerechten Moral der Holocaust zum argumentativen Versatzstück im Europäischen Haus? Der israelische Historiker Moshe Zuckermann merkt dazu an, dies sei „ideologisch im übelsten Sinne des Wortes: die Rationalisierung eigener Mitschuld am Verbrechen durch moralische Verklärung, die Vertugendung eigenen Versagens“. Der Theologe Eugen Drewermann spricht von „Stahlhelm-Pazifismus“: Kanzler Schröder halte es für angemessen, Krieg mit Krieg zu bekämpfen, dabei dürfte er wissen, dass im Kosovo ein Guerilla-Kampf „mit der ihm eigenen Logik von Terror und Gegenterror“ eskaliert.

Der grüne Europaabgeordnete Wolfgang Ullmann erkennt auf „Hegemonialpolitik der NATO“ und reflektiert, was sich während des Luftkrieges beim Gipfel der Allianz am 23./24. April 1999 in Washington abspielt. Beschlossen wird ein neues „Strategisches Konzept“, das Bereitschaft und Vermögen des Militärpaktes zu Out-of-Area-Einsätzen festhält. Die Sicherheitsinteressen der NATO-Staaten, heißt es, „können von anderen Risiken umfassenderer Natur berührt werden“ (Terrorismus, Sabotage, Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen, Flüchtlingsströme). Daraus ergebe sich der Auftrag zu Missionen, die über das Bündnisgebiet hinausreichen. Am Himmel über Belgrad, Varvarin oder Kragujevac wird der Strategiewechsel bereits exerziert. Eine Ära des Interventionismus nimmt Fahrt auf und wird sich nach zwei Jahrzehnten wieder erledigt haben. Nicht, weil es einen Sinneswandel gab, sondern das Verhältnis zwischen Aufwand und Nutzen – ob in Afghanistan, im Irak oder in Libyen – für den Westen desaströs ausfällt. Im Frühjahr 1999 freilich steht diese Lektion noch aus, und die NATO führt unter Bruch des Völkerrechts einen Weltordnungskrieg gegen Jugoslawien. Der erlaubt es, in Europa Grenzen zu verändern und die Provinz Kosovo von Serbien abzutrennen, was besiegelt ist, als NATO-Jets am 8. Juni 1999 zum letzten Einsatz der „Operation Allied Force“ aufsteigen.

Im Rückblick fällt auf, wie in Deutschland die Stützen der Gesellschaft von den staatstragenden Parteien über die Militärs bis zu den sich als Agitatoren gerierenden Journalisten nach dieser Aggression nie innehielten, um über sich selbst erschrocken zu sein. Warum auch? SPD und Grüne hatten eine „Feuerprobe“ bestanden und eine Bündnistreue bewiesen, die über jeden Zweifel erhaben sein konnte. So bereitwillig und forsch wäre keine CDU-Regierung in diesen Krieg gezogen.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Lutz Herden

Redakteur „Politik“, zuständig für „Ausland“ und „Zeitgeschichte“

Lutz Herden studierte nach einem Volontariat beim Studio Halle bis Ende der 1970er Jahre Journalistik in Leipzig, war dann Redakteur und Auslandskorrespondent des Deutschen Fernsehfunks (DFF) in Berlin, moderierte das Nachrichtenjournal „AK zwo“ und wurde 1990/91 zum Hauptabteilungsleiter Nachrichten/Journale berufen. Nach Anstellungen beim damaligen ORB in Babelsberg und dem Sender Vox in Köln kam er Mitte 1994 als Auslandsredakteur zum Freitag. Dort arbeitete es von 1996 bis 2008 als Redaktionsleiter Politik, war dann bis 2010 Ressortleiter und danach als Redakteur für den Auslandsteil und die Zeitgeschichte verantwortlich.

Lutz Herden

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden