Misstraut den Grünanlagen, beargwöhnt sie besonders in Berlin, wo sie so vieles verdecken, manchmal noch mehr verbergen. Wer kennt ihn schon, den winzigen ULAP-Park? Auf dem Stadtplan füllt er einen Quadratzentimeter zwischen der Straße Alt-Moabit und der Bahntrasse vom Hauptbahnhof. Ein unwirtlicher Ort am Fuß einer verwitterten Freitreppe mit in den Stein gewachsenen Kastanien, die grauen Sand beschatten.
Vor 75 Jahren gehört diese Treppe zum größtenteils zerbombten Ensemble der Pavillons im Universum Landes-Ausstellungs-Park – ULAP genannt. Auf diesem Gelände endet in der Nacht zum 23. April 1945, was im nahen Zellengefängnis Lehrter Straße so beginnt: Im Trakt für die politischen Häftlinge wird das Kommando „Raustreten!“ geschrien. Es gilt 16 teils prominenten Hitler-Gegnern wie dem Abwehroffizier Wilhelm Staehle, dem Gewerkschafter Ernst Schneppenhorst und dem Juristen Klaus Bonhoeffer, Bruder des bereits hingerichteten Theologen Dietrich Bonhoeffer. Auch der Geograf und Schriftsteller Albrecht Haushofer steht im Zellengang und sieht nicht wie gewohnt die Schließer, sondern ein SS-Kommando Aufstellung nehmen. Abmarsch, Schritt halten, Abstand halten, wird befohlen. Es geht über die Lehrter Straße hinüber zum ULAP-Gelände – dort angekommen, fallen die Genickschüsse. Die Toten werden erst Anfang Mai von Heinz Haushofer gefunden, der nach seinem Bruder im inzwischen fast vollends geräumten Zellengefängnis vergeblich sucht und sich daraufhin in der Umgebung umschaut. In der Manteltasche des Toten findet er Blätter, beschrieben mit Gedichten, Haushofers Moabiter Sonette, die er in seiner Zelle verfasste und mitnehmen wollte auf einem Gang, von dem er annahm, es würde sein letzter sein. Darunter sind die mit „Schuld“ überschriebenen Verse: „Doch schuldig bin ich anders, als ihr denkt / ich musste früher meine Pflicht erkennen / ich musste schärfer Unheil Unheil nennen … / Ich klage mich in meinem Herzen an: Ich habe mein Gewissen lang betrogen / ich hab’ mich selbst und andere belogen.“ Sich im Angesicht des Todes derart anzuklagen, das verspricht wenig Trost, aber kann den befreien, der es wagt.
Warum an Haushofer, sein gewaltsames Ende und gedichtetes Erbe erinnern? Weil sein Fall zeigt, wie das Regime bis zum Schluss wütete und sich treu blieb, indem es keine Gnade kannte? Um zu verhindern, dass sich der Rückblick auf den zusammenbrechenden NS-Staat auf Hitlers letzte Stunden im Bunker verengt? Haushofers Sonette bezeugen nicht nur Gesinnung, sie lassen begreifen, worin Sittlichkeit und Passion von Widerstandskämpfern bestanden, deren Motive und Opferbereitschaft umso weniger zu verstehen sind, je länger daraus resultierendes Handeln zurückliegt. Wie die Moabiter Sonette ließen sich die Abschiedsbriefe von Libertas und Harro Schulze-Boysen aus den Todeszellen in Berlin-Plötzensee anführen. Sie schrieben über sich, die Tragik des Scheiterns, das erhoffte, kommende Deutschland, für das sie Verantwortung übernahmen und nun sterben mussten. Haushofer und die Hingerichteten der „Roten Kapelle“, der Sozialdemokrat Rudolf Breitscheid wie der Kommunist Ernst Thälmann haben eines nicht verdient: zur Ehrenrettung des deutschen Volkes herhalten zu müssen. Welche Ehre konnte im Mai 1945 noch haben, wer sich von einem Regime verführen und versklaven ließ, das aus totaler Menschenverachtung nie ein Hehl machte, am wenigsten Adolf Hitler? Es war stets eine irrige Annahme, ernsthaft zu glauben, nach dem Abgang von monströsen Verbrechern sei das Besinnen auf die „anderen Deutschen“ unausweichlich geworden.
Wäre es anders, hätte vor 75 Jahren ein „anderes Deutschland“ unwiderruflich Fuß fassen müssen. Wozu es in beiden deutschen Staaten nicht kam. Im Osten gab es zumindest den Versuch, während im Westen vier Jahrzehnte vergingen, bis offiziell gesagt wurde, der 8. Mai 1945 sei auch eine Befreiung gewesen. Sage und schreibe nach mehr als sieben Jahrzehnten Bundesrepublik Deutschland ist es 2020 erstmals so weit, den 8. Mai in Berlin als Feier- und Gedenktag zu begehen. Es braucht eben Zeit, wer in Wirtschaft, Justiz, Regierung und Armee lange auf schuldbeladene Nazis nicht verzichten wollte. Da musste Haushofers aufrichtiges „Ich habe mein Gewissen lang betrogen“ ins Leere gehen. Diese moralische Integrität war nach 1945 dem Volkswillen so fremd wie den gesellschaftlichen Verhältnissen, auf die sie stieß. Das westliche Nachkriegsdeutschland wiegte sich in der Überzeugung, es sei besser, das Vermächtnis des Widerstandes zu verdrängen, als ihm gewachsen zu sein. Wofür es Gründe gab: die schwere Nachkriegszeit, die entnazifizierten, nicht entfernten Täter, den Kalten Krieg, den hereinbrechenden Wohlstand. Tausche das Gewahrsam der Diktatur gegen das Luxusreservat der Demokratie. Nach Osten rollten keine Panzer mehr, der Mercedes tat es auch. Hatte es sich gelohnt, den Krieg zu verlieren und in der Geborgenheit des Antikommunismus zu verweilen?
Wohl gibt es heute im Gedenkpark Zellengefängnis Lehrter Straße eine kleine Tafel, die an Opfer des Faschismus wie Albrecht Haushofer erinnert. Nicht aber am eigentlichen Tatort. Es ist viel Zeit vergangen, um Abstand zu gewinnen. Und zu halten.
Kommentare 17
Die Gefahr, dass ein gesetzlicher Feiertag am 8. Mai als ein weiteres Instrument wohlfeiler Entlastung von nationaler historischer Schuld benutzt wird, besteht natürlich. Aber es gibt auch immer die Möglichkeit für alle Akteure, die das wollen, solche Gedenktage für kritische Positionierungen zu aktuellen Entwicklungen zu nutzen. Und so geschieht es ja in diesem Jahr auch.
Die AfD versucht, mit der Polemik gegen diesen Gedenk- und Feiertag, ein Stück Diskurshoheit nach den defensiven Wochen zurückzugewinnen. Interessant ist ein Teil der Reaktionen aus Richtung der "wahren" Linken, die meinen die Deutschen haben einen Feiertag 8. Mai nicht verdient, weil sie ja, weil Deutsche, zu großen Teilen immer noch Rassisten, Antisemiten und Faschisten seien.
Die eine sagen, die Deutschen haben keinen Grund, den 8. Mai zu feiern, die anderen, sie hätten kein Recht dazu. Diametral entgegengesetzte Wertung aus einer ganz ähnlichen Denkstruktur heraus. Das sog. BMW-KZ Allau zum Beispiel gab es aber nicht, weil ein wie auch immer verstandenes "deutsches Wesen" das so wollte. Seine Befreiung 1945 dürfen und sollten wir feiern. Erst recht, weil die Gefahr nicht vorüber ist.
Danke für den nachdenklichen Artikel.
BMW-KZ Allach muss es heißen.
Danke für die (u.a.!) Erinnerung an Albrecht Haushofer.
"Ein Wunder wärs, wenn uns ein Schicksal gönnte/
Noch Dasein ohne Wirkung, Sinn und Ziel /
Wir wissens: dennoch danken wir dem Spiel/
Dem Spiel des Zufalls, das uns töten könnte/
Mit jedem Wurf, und heut noch unser schont.
Wer hoffte nicht, dass doch ein Tag ihm lohnt!"
https://de.wikisource.org/wiki/Benutzer:Vsop.de/Moabiter_Sonette
Für die Ostdeutschen ja eher nicht. Und ob sie den 1. Juli 1990 jetzt noch vorbehaltlos positiv erinnern?
Wer sind "die Ostdeutschen"? Sind ihre Erinnerungen und Gegenwartsgefühle kollektiv erzählbar? Wohl kaum...
Ich finde, man sollte am 8. Mai auch der Direktive Werwolf bedenken. Diese wurde zwar kurz vor der Befreiuung von Aachen im Herbst 1944 ausgegeben, doch sie wirkt immer noch nach in den Wehrsportgruppen, dem NSU, der Gehlen-Gruppe (heute 'Verfassungsschutz') und der AfD. 1945 fand zwar eine Befreiung statt, doch diese hat auch 75 Jahre später noch immer viele Feinde, in und außerhalb der republikanischen Institutionen.
Für mich ist es der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus! Das man sich im neuen Deutschland nach 1989 so schwer tut damit, zeigt, das wirkliche Gesicht und noch so manche Revanche für Stalingrad, leider! Das Ritterkreuz am deutschen Knorpel wirkt bis heute nach … leider auch im Osten, das wurde aber erfolgreich vermittelt!
Zunächst einmal war der 2o. Juni 1948 die Weichenstellung für einen westdeutschen Separatstaat, der ein einheitliches Deutschland ja wohl vor allem deshalb ausschloss, weil es eine Sowjetische Besatzungszone gab, von der klar war, dass sie gesellschaftspolitisch keiner Restauration wie in den Westsektoren folgen würde.
2023 - 2027 wird man die gleichen Geschichten aus den "Linken" faschistischen Regimen in Nicaragua und Venezuela hören, Genickschűsse bis am vorletztem Tag.
"2023 - 2027 wird man die gleichen Geschichten aus den "Linken" faschistischen Regimen in Nicaragua und Venezuela hören, Genickschűsse bis am vorletztem Tag"
Hä? Wtf? Sie vergleichen (und nur?) diese beiden Länder mit Nazideutschland?
Es gibt in Lateinamerika noch mindestens ein halbes Dutzend anderer, nicht "linksfaschistischer"(sic!) Länder, in denen gemordet wird, als ob es kein Morgen mehr geben dürfte.
Schauen Sie mal hier:
https://www.nzz.ch/international/amerika/mordstatistik-blutiges-lateinamerika-ld.4628
Ich lebe seid 20 Jahren in Lateinamerika und kenne die vorhandenen evtl. Verhältnisse da ganz gut, nich'?
Gruss
;)
Doctor Engele, I presume?
Das war mein Grossvater
Herr Dr. Dr. Dr. Prof. Mengele, nicht so auf meinen Vorfahren rumtrampeln bitte !!!
How dare you?
Mängel, mein Bienenengel, in der deutschen Sprache, konkret bei der Lesekompetenz. Kein M vorm Engele. Grüße von 30sec-Stanley.
Ach, da kommen einem die Tränchen bei der Erinnerung, damals, der Opi in Bertioga, da konnte man die Haushälterin noch richtig verprügeln ohne dass die Lackaffen von den "derechos humanos" einen Nervten.
Und die Mädels in der Colonia Dignidad wenn wir Ausflüge nach Chile machten, das waren richtige Wuchtbrummen, die taten immer so als wollten sie keinen Sex und waren immer ganz froh wenn sie ihn bekommen haben. Ja, jung müsste man wieder sein!
Wenn ich an diese Zeiten denke tun mir die jungen Leute heutzutage in der Pandemie Leid.
:(
Nachdem des großdeutschen Führers willige Helfer Europa vom Atlantik bis zur Wolga, vom Polarkreis bis Sizilien und in der nordafrikanischen Peripherie verheert und im Vernichtungskrieg millionenfach gemordet hatten, mussten die Siegermächte mit der Besetzung des Landes die deutschen Täter (die wundersam schnellstens zu Opfern mutierten) mühsam von ihrem Glauben an Führer- und Nazi-Ideologie abbringen. Das konnte nicht an einem Tag gelingen und dass es nicht vollkommen gelungen ist, kann man noch heute erkennen.