Achtung, Hegemoniefalle!

Außenpolitik Deutschland ist dabei, Klassensprecher des Westens zu werden. Im Wahlkampf wird das ausgeblendet
Ausgabe 36/2017

Wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben, hieß es in der DDR. Das ließe sich gegenwartsbezogen abwandeln: Je fester wir heute daran glauben, dass uns die Welt da draußen nichts oder nicht viel anhaben kann, desto besser werden wir morgen davonkommen. Es hat schon einen komischen Beigeschmack, „wenn hinten, weit, in der Türkei, die Völker aufeinander schlagen“ (Goethe), und man hier „am Fenster steht und trinkt sein Gläschen aus“. Will heißen, gerät die Welt anderswo aus den Fugen, ist das noch lange kein Grund, nervös zu werden. So wie das Kanzlerin Merkel im Wahlkampf mustergültig vorlebt, in Bitterfeld Präsentkörbe und in Annaberg-Buchholz handgeschnitzte Lutherköpfe entgegennimmt, während Gegenspieler Martin Schulz eine Fischfabrik in Eckernförde besucht. Außenpolitik, so der Eindruck aus den vergangenen Wochen, fristet im Wahlkampf ein Schattendasein, findet ansonsten aber sehr wohl statt. Deutschland ist auf dem besten Weg, Klassensprecher des Westens zu werden und in ein Vakuum zu stoßen, das eine vom America-First-Syndrom besessene US-Führung hinterlässt.

Wenn sich Derartiges abzeichnet, müsste dann nicht über die Konsequenzen diskutiert werden, zumal vor einer Bundestagswahl? Beim einzigen TV-Duell zwischen den Spitzenkandidaten der größten Parteien wurde dieses Ranking noch nicht einmal gestreift, geschweige denn über die Umstände geredet: zum Beispiel weltweit zerfallende Ordnungssysteme und Regionen, die seit Jahren zwischen Krieg und Frieden pendeln? Oder 50 Millionen Menschen auf der Flucht, die ihre Existenz aufgeben, um zu überleben. Und überhaupt, wie empfiehlt sich Deutschland für den Karrieresprung? Durch die erzieherische Inbrunst eines Vormunds, der sich an den üblichen Verdächtigen Erdoğan, Putin, Orbán oder Kaczyński abarbeitet? Oder – um nur eine Option aufzugreifen – durch einen fundierten Friedensplan für einen buchstäblich am Boden zerstörten Jemen, um den saudischen Aggressor in die Schranken zu weisen und wegen seiner Luftangriffe mit einem Wirtschaftsboykott zu belegen? Waffenexporte inklusive. Zu irreal, zu verwegen? Aber wie Riad mit dem Jemen geht Moskau nicht einmal ansatzweise mit der Ukraine um.

Das außenpolitische Establishment wird den gestiegenen Erwartungen lieber anderweitig gerecht. Durch eine Idee etwa, die Frank-Walter Steinmeier noch als Außenminister Ende 2016 dem Nahen Osten gönnte. Er rekurrierte auf den Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), riet dem Subkontinent zu einem Westfälischen Frieden und übersah, dass der lediglich zu einem belastbaren Waffenstillstand, aber keiner dauerhaften europäischen Friedensordnung geführt hatte. Sicher wurden einst mit den Verträgen von Münster und Osnabrück Schlachtordnungen entschärft und die konfessionellen Bindungen von Kriegsparteien wie Frankreich, Schweden oder dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zurückgedrängt. Doch unterblieb ein Interessenausgleich, der den Verzicht auf Interessen einschloss. Prompt ließen die nächsten Kriege nicht auf sich warten. Schon 1655 war es zwischen Schweden und Russland wieder so weit.

Ein toter Punkt ist erreicht

Insofern eignet sich das Muster aus dem 17. nur bedingt zur Wiedervorlage im 21. Jahrhundert. Wird es dennoch bemüht, zeugt das von generöser Nonchalance, mit der sich Deutschland ohne übermäßigen Faktencheck zum Mentor von Konfliktregulierung erhebt. Eine Referenz für die vakante Führung westlicher Weltordnungspolitik ist das kaum. Was nichts daran ändert, dass der Anspruch – den Westen führen jetzt wir – in der Luft liegt. Er wäre mit „Hang zur Hegemonie“ überzeichnet, mit „Bedarf an Geltungsmacht“ angemessen ventiliert. Dabei lassen Politiker wie Steinmeier gern durchblicken, wie sie den Klassenprimus schon länger verinnerlicht haben. Während einer USA-Reise 2015 darum gebeten, die Rolle Deutschlands in Europa zu definieren, ließ er wissen, da sei man eine Art CFO. Freilich nicht mehr als „Chief Financial Officer“, sondern als „Chief Facilitating Officer“, was sich mit „Chefvermittler“ oder „Chefmanager“ übersetzen ließ. Die Aussage reflektierte, wie Dominanz in der EU als selbstverständlich gilt, und legte gleichsam nahe, wer sich in diesem zusehends disparaten Staatenbund durchsetzt, sei zu Höherem berufen. Warum nicht zum Chief Facilitating Officer des westlichen Systems, wenn das erkennbar an Ausstrahlung und monolithischer Substanz verliert?

Die Weichen jedenfalls sind gestellt. Im Weißbuch der Bundesregierung vom 13. Juli 2016 wird für Deutschland „aktive internationale Gestaltungsmacht“ reklamiert und fortgeschrieben, was 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz der damalige Bundespräsident Gauck wie die Minister von der Leyen und Steinmeier postuliert hatten: Man müsse „mehr Verantwortung in der Welt übernehmen“, nicht an der Seitenlinie herumstehen, den militärischen Einsatz wagen und so Weltordnungspolitik betreiben. Die Frage ist nur, gilt das noch, wenn deren Folgen längst auf Selbstüberschätzung hindeuten? Sollte eine potenzielle Führungsmacht nicht laut und deutlich die Gründe nennen, weshalb ein toter Punkt erreicht ist – Analytiker statt Apologet einer globalen Anmaßung sein? Wer den Westen führen will, sollte ihn von der Illusion befreien, weitermachen zu können wie bisher. Die Doktrin, durch das Ausspielen militärischer Macht Gesellschaften in Nordafrika, Nahost und Zentralasien zum Regime Change zu zwingen, ist gescheitert. Der Dualismus von Intervention und Besatzung hat nirgends funktioniert. Aufwand und eigene Opfer waren zu hoch, die innenpolitischen Verwerfungen externer Abenteuer zu groß, die geostrategische Dividende zu gering. Statt der erwünschten Kompatibilität mit dem westlichen System sind Libyen, der Irak, Syrien oder Afghanistan Störfaktoren desselben, gezeichnet vom Verfall staatlicher Autorität, ökonomischer Zerrüttung wie humanitärem Kollaps. Der als Demokratietransfer firmierende Regimetransfer hat die Demokratie als Markenzeichen des Westens diskreditiert, stattdessen radikalen nichtstaatlichen, oft ultrareligiös geprägten Kombattanten zum Vormarsch verholfen. Dem Phänomen des Failed State ebenso.

Konvention wie üblich

Wahlprogramme CDU/CSU reflektieren mitnichten die brisante Lage in den Konfliktzonen weltweit und erwecken den Eindruck, weiter auf Washington setzen zu wollen: „Die USA sind und bleiben ein zentraler Partner.“ Auch zur Türkei sollen die Beziehungen vertieft werden. Bei der SPD fehlt das Bekenntnis zu einem kollektiven Sicherheitssystem in Europa, das über die NATO hinausgeht. Immerhin heißt es im Wahlprogramm, man wolle „eine Deeska- lation mit Russland“. Ob deshalb Sanktionen zur Disposition stehen, wird nicht gesagt. Dass man eine „europäische Armee“ brauche, hingegen schon. Allein die Linkspartei distanziert sich von allen internationalen Kampfeinsätzen, mit denen sich weder Krieg noch Flucht eindämmen, aber oft autoritäre Regime unterstützen ließen.

Zu diesem Lagebild gehört die Einsicht, dass die integrative Normalität des transatlantischen Bündnisses gewohnter Verlässlichkeit entbehrt. Die USA unter Donald Trump haben das Zeug zum globalen Marodeur, die Türkei wird von einem Präsidenten geführt, der eine Rhetorik liebt, auf die verfeindete Staaten kurz vor dem ersten Schuss verfallen. In der EU haben auf nationalen Eigensinn bedachte Mitglieder (Polen, Ungarn, mit Abstrichen die Slowakei und Tschechien) Widerstandszellen gebildet, die von Gemeinschaft wenig übrig lassen. Vom Brexit und der nur eingehegten, nicht gelösten Eurokrise ganz zu schweigen.

Mut zur Demut

Parallel dazu diffundieren die Machtressourcen des Westens und stoßen auf eine diffuse Gegenmacht des Südens. Noch wird die nicht gezielt eingesetzt, ist aber als Potenzial längst vorhanden. Es resultiert aus der um sich greifenden Präsenz des Antiterrorkrieges wie des Terrorismus als seines Alter Ego, wenn europäische Metropolen durch sich häufende Anschläge zum Kriegsschauplatz werden und der Horror von Bagdad oder Mossul inzwischen Paris, Nizza, Brüssel, Berlin, London, Stockholm und Barcelona erreicht. Zu dieser Gegenmacht zählt gleichfalls eine weiter nach Europa driftende Flüchtlingsbewegung, die sich zwar eindämmen, aber nicht aufhalten lässt. Hinzu kommen regionale Kriege, die mit ihren Konfliktparteien und -paten derart komplex ausfallen, dass der Wunsch nach Beherrschbarkeit ein frommer, weil unerfüllbarer ist. Dass sich diese Krisencluster reproduzieren, indem sie sich gegenseitig befeuern und Krisensynergien entfalten, steht außer Frage.

Die Zeit wieder ins Lot zu bringen, das wäre einen Versuch wert. Nur welchen? Zu Beginn der 1970er Jahre war die Ostpolitik Willy Brandts sicher eine Zäsur, aber kein alternativloses Unterfangen, weil das Ost-West-Verhältnis sonst unweigerlich außer Kontrolle geraten wäre. Heute nähert sich die Welt einem Zustand zwischen Nichtkrieg und Nichtfrieden, bedingt durch schwer steuerbare, fast schon irreversible Antagonismen, wie es sie vor 1914 mit verheerenden Folgen gab. Um sich dagegen zu stemmen, wäre, so profan das auch klingen mag, ein radikaler Paradigmenwechsel im außenpolitischen Denken des Westens fällig – der Mut zur Demut. Nicht nur deklamieren, dass Staaten als gleichberechtigte Subjekte diese Welt bevölkern, sondern einsehen: Wenn das so ist, haben sie das gleiche Recht auf strategische wie systemerhaltende Interessen, sofern daraufbezogenes Handeln internationales Recht respektiert.

Um zu konkretisieren, was gemeint ist: Da die nukleare Schwelle nun einmal überschritten wurde, ist Deeskalation im Konflikt um Nordkorea nur möglich, falls sich die USA dazu durchringen, keine Kriegsdrohungen mehr auszustoßen, sondern Sicherheitsgarantien für den zweiten koreanischen Staat zu übernehmen – sein Existenzrecht wie die territoriale Unversehrtheit. Deutschland könnte – aller Bündnisräson zum Trotz – die beanspruchte Geltungsmacht einsetzen, um dieses Gebot der Vernunft zu unterstützen. Stattdessen zieht sich die Regierung Merkel auf die richtige, aber unverbindliche Formel zurück, es muss eine friedliche Lösung geben, und verschweigt den dazu allein denkbaren Weg. Der Klassenprimus will kein Revolutionär sein. Müsste er aber, um die USA vor sich selbst, und die Welt vor Kim Jong-un und Donald Trump zu schützen.

Dies zu fordern, hat nichts mit Lust an Übertreibung zu tun, sondern der Gewissheit, dass hochentwickelte Industriestaaten wie die Bundesrepublik Deutschland mit einer schon in Normalzeiten wenig krisenresistenten Infrastruktur wie dem Hang zur hedonistischen Lebensweise extrem verwundbar sind. Bertolt Brechts Warnung – „Zieht nun in neue Kriege nicht, ihr Armen. Als ob die alten nicht gelanget hätten“ – meint heute: Hütet euch vor den kommenden Kriegen, es werden die letzten sein. Auch wenn ein Gegner aufhaltbar sein mag – sicher auch der mit terroristischen Mitteln aus technologischer Unterlegenheit heraus angreifende –, die eigene Verwundbarkeit ist es nicht. Seit 9/11 weiß man, ein auf militärische Übermacht gegründetes Dasein kann durch die Macht der Verwundbarkeit paralysiert werden. Darin besteht das Lebenselixier asymmetrischer Kriege im Atomzeitalter. Muss es gleich das Verhängnis einer Epoche sein?

Man sollte sich des standhaften Rückzugs erinnern, den Michail Gorbatschow vor drei Jahrzehnten für die Sowjetunion und das auf sie zugeschnittene Militärbündnis eingeleitet hat. Erkenntnis und Erfahrung der Selbstüberforderung ließen zur Selbstbeschränkung übergehen, die in Selbstaufgabe mündete. Dies war gewiss nicht beabsichtigt, aber mutmaßlich darauf zurückzuführen, zu spät damit begonnen zu haben, nur noch leisten zu wollen, was die Ressourcen hergaben.

Durch diesen epochalen Verzicht glaubte man sich 1990/91 am Beginn eines Zeitalters der Friedfertigen, doch wurde die Chance postwendend durch die Siegermentalität des Westens verspielt, der als Weltordnungsmacht für sich herausholen wollte, was herauszuholen war. Und nun vor einem Scherbenhaufen steht. Fühlt sich Deutschland in solcher Lage zur Führungsmacht berufen, müsste es Konkursverwalter sein, der Hoffnung auf einen Neuanfang vermittelt oder einfach nur abwickelt. Ist eine Bundesregierung in Sicht, die über sich hinauswächst, indem sie in ein solches Mandat hineinwächst? Noch ist das eine rhetorische Frage.

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